Die letzte Synagoge aus dem 19. Jahrhundert
In Groß-Gerau gab es drei Synagogen (siehe Stadtplan). Die letzte wurde 1892 in der heutigen Frankfurter Straße kurz vor der Überquerung der Bahngleise eingeweiht. Zwei Jahre später wurde auf dem Gelände eine Mikwe (jüdisches Ritualbad) gebaut. Die Synagoge existierte nur 46 Jahre. Im September 1934 wurden religiöse Gegenstände zerstört und am 10. November 1938 morgens wurde die Synagoge durch Brandstiftung in der Pogromnacht vernichtet. In dem Gebäude befanden sich einige Torarollen aus dem 18. und 19. Jahrhundert.
Am 9. September 1892 wurde die Groß-Gerauer Synagoge eingeweiht. Darüber wurde im Kreisblatt ausführlich berichtet. Sie war aus einer Lotterie finanziert worden. 80 000 Lose zu einer Mark wurden ausgegeben. "Es winkten 1500 Gewinne im Gesamtwert von 36 000 Mark" berichtete Hans Diehl, Jahrgang 1901, Zimmermeister i.R. Er besitzt ein Originallos aus dem Jahr 1891 mit dem Ziehungsplan der Lose und auch die Baupläne für die Synagoge und für das Frauen-Badehaus (Mikwe), hatte doch sein Vater - Zimmermeister W.H. Diehl - den Auftrag erhalten, das Dach der Synagoge und des Badehauses zu setzen sowie andere Zimmerer-Arbeiten auszuführen. Im Stadtarchiv liegen die Kopien des Baugesuchs der israelitischen Religionsgemeinde zur Erbauung eines Frauenbades und der Synagoge, wie sie vom Vorstand B. Hirsch 1891 zur Genehmigung eingereicht worden waren.
"Der zweigeschossige Backsteinbau wurde errichtet, als die Gemeinde über einhundert Mitglieder zählte. Er war Schule und Bethaus für die Juden des ganzen Gerauer Landes. Die Westfassade war in drei Teile, der inneren Anordnung entsprechend, gegliedert. Der mittlere Risalit überragte die beiden seitlichen und wurde von einer flachen Kuppelbedachung gekrönt. Ein breites Gesims betonte den horizontalen Abschluß unterhalb des Daches und trug die beiden Gesetzestafeln. Die drei Risalite werden jeweils von polygonalen Pfeilern gerahmt, die kleine Laternen mit Kuppelbedachung krönen und wesentlich über das Abschlußgesims hinausgezogen sind. Die Rundbogenfenster durchlaufen nicht beide Geschosse, sondern geben die innere Doppelgeschossigkeit wieder. Die Westfassade der Groß-Gerauer Synagoge erweckt den Eindruck einer Basilika mit niedrigen Seitenschiffen dadurch, daß die beiden Eckrisalite niedriger sind als der mittlere Teil. Im Gegensatz zu diesen christlichen Merkmalen erinnern die überkuppelten Pfeiler an den Ecken an arabische Minarette. Die Bauform und das Baumaterial (rote Klinkersteine) trugen dazu bei, daß die Synagoge sich aus der Reihe der anderen Gebäude im Stadtbild hervorhob. Die optische Unterscheidung durch den etwas orientalisierenden Baustil ist wahrscheinlich der Ausdruck dafür, daß die Groß-Gerauer Juden in einem schon hohen Grad integriert waren . . ." (Anni Bardon, Synagogen in Hessen um 1900; in: 900 Jahre Geschichte der Juden in Hessen, Wiesbaden 1983)
Menachem Kaufmann, 1921 in Geinsheim geboren, berichtet:
In Groß-Gerau war die Synagoge das Zentrum unseres gesellschaftlichen
Lebens. Dort spielten wir Tischtennis und Gesellschaftsspiele. Die Synagoge,
die bis 1933 nur ein Gotteshaus war, wurde jetzt auch das Lebenszentrum der
Groß-Gerauer Juden. Der junge Kantor Karl Hartogsohn versuchte, uns Jugendliche
für die jüdische Kultur zu interessieren, und die Eltern trafen sich
in der Synagoge vor und nach den Gebeten, um sich das Herz auszuschütten
und miteinander zu beraten, wie irgendwie weiterzuleben war. Juden, die vorher
selten in die Synagoge gingen, kamen jetzt nicht nur am Sabbat und an Festtagen,
sondern auch mitten in der Woche, um zu beten und sich zu unterhalten.
Historische Fotos der letzten Synagoge
Hier das Programm der Einweihungsfeier im Kreisblatt Groß-Gerau vom 8. September 1892:
Einweihungsfeier der neuen Synagoge Gross-Gerau Zu der am 9. und 10. September a.c. stattfindenden Einweihungsfeier beehren wir uns die werthe hiesige Einwohnerschaft ergebenst einzuladen. Programm: Freitag den 9. September. Nachmittags 3 Uhr: Aufstellung des Festzuges an der alten Synagoge und Abschiedsgottesdienst. Nachmittags 31/2 Uhr: Abmarsch des Festzuges zur neuen Synagoge. Zugordnung: Bei Ankunft an der neuen Synagoge: Abends 8 Uhr: Concert in den Gasthöfen: Samstag den 10. September. Der Vorstand und Festausschuss |
Die Israelitische Religionsgemeinde Groß-Gerau begeht in dieser
Woche und zwar Freitag 9., Samstag 10. September die Einweihung der neuen
Synagoge. Bevor wir auf die Einzelheiten der Einweihungsfeier selbst eingehen,
wollen wir dem Wunsche Ausdruck geben, daß sich bei dieser Veranlassung
das freundliche, friedliche Zusammenleben der Konfektionen unter- und
nebeneinander auch durch äußerlichen Schmuck wieder dokumentiren
möge! - Freitag 9., Sept. wird sich Nachmittags 3 Uhr der Festzug
an der bisher zum Gottesdienst der Isr. Gemeinde benützten Synagoge
aufstellen, in derselben findet zuvor ein Abschiedsgottesdienst statt,
nach dessen Beendigung der Festzug zur neuen Synagoge sich begibt. Die
specielle Zuordnung ist in besonderem Programme enthalten, der Zug selbst
wird sich in feierlicher Ordnung vollziehen. Bei Ankunft desselben vor
der neuen Synagoge erfolgt zunächst die feierliche Ueberreichung
des Schlüssels, sodann wird das große Eingangsthor feierlich
geöffnet, der Einzug erfolgt unter den Klängen der Musik. An
den Einzug reihen sich die Weihepredigt, Gesänge und Gottesdienst
an. Am Abend des Tages soll nochmals Gottesdienst abgehalten werden. -
Von 8 Uhr ab werden Concerte stattfinden in den Gasthäusern "zur
Krone", "zum Adler" und "zum weißen Roß",
damit schließt der erste Tag. Für den zweiten Tag, 10. Sept.,
sind zunächst bestimmt Gottesdienste in der neuen Synagoge um 7 und
um 9 Uhr (Hauptgottesdienst mit Predigt.) Nachmittags 4 Uhr soll Concert
in den bereits erwähnten Gasthäusern, Abends sollen Festbälle
in denselben stattfinden. Localbericht. Der Tag der feierlichen Einweihung der neuen Synagoge der Israelitischen
Religionsgemeinde ist angebrochen, wünschen wir ihm wie dem morgigen
zweiten Festtage schönsten Verlauf, möge insbesondere auch freundliche
Witterung diese Tage begünstigen. Die Umgebung der neuen Synagoge
ist seit gestern festlich geschmückt, von dem eisernen Thore, durch
welches man zum Haupteingange gelangt, ist eine prächtige Ehrenpforte
aus frischem Grün errichtet, überall kommt das verwendete frische
Grün bei dem Festschmuck prächtig zur Wirkung, namentlich auch
an den mit solchem Grün geschmückten Privatgebäuden. Nach
dem bekannt gegebenen Programme beginnen die Feierlichkeiten um 3 Uhr
mit dem Abschiedsgottesdienst in der bisher benützten Synagoge, die
Theilnahme an dem Festzuge dürfte sich zu einer sehr regen gestalten. |
Die Einweihung der neuen Synagoge. Zwei Tage aufrichtiger Freude liegen hinter den Mitgliedern der Israelitischen Religionsgemeinde! - Jahrzehnte sind es her, daß für deren Gottesdienste, trotzdem sie an Zahl immer mehr zunahm, ein im älteren Theile der Stadt befindliches Gebäude von einer Bauart, an welcher der Zahn der Zeit sich mehr und mehr geltend machte, benutzt werden mußte, mit um so größerer Spannung sah man dem Tage entgegen, an welchem der stylvolle Neubau in schöner Stadtgegend seiner Bestimmung übergeben werden konnte. Viele eifrige Hände waren in den jüngsten Tagen thätig, dort Alles aufs Beste für die Einweihungsfeier vorzubereiten, im Innern wurden die letzten Arbeiten abgeschlossen, Außen erhob sich der zwar nur einfache, aber gerade hierdurch um so schöner wirkende Festschmuck, mit diesem Festschmuck vereint, kam das neue Gotteshaus für Jeden, der seinen Blick ihm zuwandte, zu bester Wirkung. Bevor wir auf die Einweihungsfeier selbst eingehen wollen wir zunächst der freundlichen Theilnahme gedenken, welche die Einwohnerschaft durch Schmuck der Häuser dem Feste zugewendet, denn sie hat sich damit selbst geehrt. Die Feierlichkeiten begannen Freitag Mittag 3 Uhr mit kurzer Abschiedsfeier in der alten Synagoge, woselbst sich die beiden Rabbiner Herren Dr. Selver - Darmstadt, Dr. Saalfeld - Mainz, der israelitische Lehrer Herr Neumann, die israelitischen Gemeindevorsteher Herrn B. Hirsch, B. Marxsohn, A. Guckenheimer sowie viele Glieder der israelitischen Gemeinde Groß-Gerau und sonstige Festtheilnehmer eingefunden hatten. Nach Schluß des Abschiedsgottesdienstes entwickelte sich der Festzug, die Großherzoglichen Beamten, Geistlichen, die Mitglieder des Stadtvorstandes, die Kirchenvorstandsmitlgieder beider Konfessionen, die Vorstandsmitglieder der hier bestehenden Vereine und Corporationen zeichneten die israelitische Gemeinde durch die Theilnahme am Festzug aus. Von Auswärts waren einige Festtheilnehmer erschienen. Die Anwesenheit einer großen Anzahl junger Damen der israelitischen Gemeinde, sämmtlich sehr hübsch gekleidet, verlieh dem Zuge ein lebensvolles Gepräge. Unter Musikklängen bewegte sich der Zug durch die von einem zahlreichen Publikum umsäumte Fahrgasse zur neuen Synagoge. Vor derselben angelangt, erfolgte zunächst, jeweils unter entsprechenden Worten, die Uebergabe des Schlüssels durch Frl. A. Hirsch an Herrn Baumeister Lohr, dieser übergab ihn Herrn Vorstand B. Hirsch, aus dessen Händen nahm ihn Herr Kreisrath Frhr. von Löw entgegen, überreichte ihn Herrn Rabbiner Dr. Selver, die feierliche Eröffnung des Haupthores erfolgte durch letzteren nach kurzer Ansprache, worauf der Einzug erfolgte. Die innere Ausstattung der neuen Synagoge erwies sich als über alles Lob erhaben, sie ist harmonisch schon gelungen, wie dies allseits anerkannt wurde. In diesem prächtigen Raume ging nun die Einweihungsfeier vor sich. In die religiöse Handlung theilten sich die Herren Rabbiner Dr. Selver und Dr. Saalfeld, im Verlaufe derselben ging der Umgang mit der Thora und das Einheben der Thorarollen vor sich. Die Feierlichkeit wurde erhöht durch schon vorgetragene Gesänge der israelitischen Damen unter Hrn Oppel's Leitung, die Herren Rabbiner richteten von Herzen kommende und zu Herzen gehende Worte an die Festversammlung insbesondere fand die Weiherede des Herrn Dr. Saalfeld Anklang. Mit dem allgemeinen Segen fand der Einweihungsgottesdienst seinen Abschluß, ihm schloß sich nach kurzer Pause noch ein von Herrn Lehrer Neumann gehaltener Abendgottesdienst für die Mitglieder der israelitischen Gemeinde selbst an. Der Abend brachte als Abschluß des Tages Concert in drei Gasthäusern. Der zweite Freitag wurde eröffnet mit Frühgottesdienst in der neuen Synagoge, welchem sich um 9 Uhr der Hauptgottesdienst mit Predigt (Herr Rabbiner Dr. Saalfeld von Mainz) anreihte. Der Nachmittag brachte von 4 Uhr ab wieder Concert in denselben Gasthäusern wie Abends zuvor, denen Festbälle sich anreihten. Der Verlauf der beiden Festtage war ein in allen Theilen zufriedenstellender,
für die Glieder der israelitischen Gemeinde wird es eine willkommene
Thatsache sein, daß die in die nächste Zeit fallenden hohen
Festtage, u.A. auch das Neujahrsfest, in dem neuen Gotteshause gefeiert
werden können. Schließlich sei noch der rührigen Thätigkeit
des Vorstandes der israelitischen Gemeinde, des Bauleiters Herrn Lohr,
der betheiligten Bauleute anerkannend gedacht, durch einträchtiges
Zusammenwirken aller Kräfte ist ein Werk geschaffen worden, das der
Stadt zur Zierde gereicht! |
Der Bau der Synagoge wurde durch eine Lotterie finanziert.