In einem Brief an die Stadt Groß-Gerau teilt Gustav Hirsch mit: „In meiner Eigenschaft als Jude teile ich Ihnen mit, dass ich auf Grund der Verordnung ab 1. 1. 1939 den weiteren Vornamen „Israel“ zu führen habe.“
Gustav, Hirsch, Inhaber einer Metzgerei mit Viehhandel in der Frankfurter Straße 60 und erster Vorsteher der jüdischen Gemeinde Groß-Geraus, geb. am 23. 5. 1880 in Wallerstädten ist 1939 nicht mehr im örtlichen Adressbuch zu finden. Er ist verheiratet mit Lina Hirsch, die am 6. 3. 1896 in Königstädten zur Welt kommt. Deren Mutter war Emma Mayer, geb. Kahn, geb. am 6. 9. 1873 in Trebur.
Was widerfuhr denen, die früher in der heutigen Senioren-Begegnungsstätte Haus Raiss wohnten und arbeiteten?
Gustav lebt von 1907 bis 1939 am Ort. Die in der Nazi-Zeit üblich werdenden Diskriminierungen, seien sie durch Gesetze wie die von Nürnberg 1935 bedingt, seien es alltägliche im Zusammenleben mit den anderen Groß-Gerauern, gipfeln rund um das Pogrom 1938, als Geschäft und Wohnung durch den Mob verwüstet und geplündert werden.
Über den Überfall auf das Haus des Gemeindevorstehers Gustav Hirsch in der "Kristallnacht" steht uns eine ausführliche Zeugenaussage zur Verfügung: "Hier war wieder die SA, sie umstand das Haus von allen Seiten. Jenseits der SA-Kette versammelten sich neugierige Bürger. Sie sahen ruhig und nachdenklich aus, ohne Aufregung oder Begeisterung. Ich weiß nicht, ob die Menschen verängstigt oder entsetzt waren. Sie machten einen etwas bedrückten Eindruck. Sie standen einfach da. Einige waren im einstöckigen Haus und warfen Gegenstände aus den Fenstern heraus. Plötzlich schrie ein SA-Mann von unten: ,Du mußt hinter den Spiegeln und den Bildern suchen, dort verstecken sie das Geld`. Ich sah Gestalten an den Fenstern. Sie warfen Bettzeug auf die Straße und die anwesenden Menschen nahmen die Sachen mit nach Hause. Es wurden Möbel herausgeworfen und auch ein Spiegel."
Vom 11. 11. 1938 bis 13. 12. 1938 erfährt er wie viele andere männliche Juden aus Groß-Gerau, was es heißt einen Monat lang im Konzentrationslager Buchenwald inhaftiert zu sein. Wie ihm auch noch viel später vorgehalten wird, hat er das nationalsozialistische Lieferungsgesetz wegen für ihn als Juden verbotenen Schlachtvieheinkaufs übertreten und dafür eine Geldstrafe von 500 RM erhalten; dafür wird er viel später 1957 keine Entschädigung erhalten. Aber das hatte mit dem kollektiven KZ-Aufenthalt infolge der Reichspogromnacht nichts zu tun! Bevor er sein Haus verkaufen muss und sich nach Frankfurt in die Hanauer Landstraße 17 abmeldet, wo er vom 1. 3. 1939 - bis 30. 12. 1939 wohnt, muss er kurzfristig zuletzt in der Frankfurter Str. 85 in Groß-Gerau untergekommen sein. Dass er am 17. 1. 1940 zusammen mit seiner Familie auswandern kann, rettet ihrer aller Leben.
Zuvor jedoch muss er am 18. 12. 1939 ein Taxverzeichnis aller Güter vorlegen, die nach dem 31. 12. 1932 angeschafft wurden (946,00 RM); es muss ein Antrag zur Mitnahme von Umzugsgut nach Frankfurt Hanauer Landstraße 17 genehmigt werden; es muss das noch vorhandene Gesamtvermögen ausgewiesen werden (2300 RM), es müssen die Unbedenklichkeitsbescheinigung bezüglich der Judenabgabe, der Reichsfluchtsteuer und der DEGO-Abgabe (250 RM) ausgefertigt werden; es muss eine Ablieferungsbescheinigung an die Jüdische. Kultusvereinigung Frankfurt, Abt. „Auswanderer-Listenberatung (23. 12. 1939) erwirkt werden. Es muss alles, was nicht mitgenommen werden darf, hinterlegt werden: ein Päckchen Silber bei der städtischen Darlehensanstalt, öffentliche Ankaufstelle (27. 12. 1939). Den Schluss bildet der behördliche Vermerk: „Verfahren wird eingestellt“: Auswanderung.
Mit über fünfzig Jahren baut sich dann Gustav Hirsch eine neue Existenz in Bridgeport, Connecticut, USA, auf. Von dort aus wird er auch seine Wiedergutmachungs- und Rückerstattungsangelegenheiten nach 1945 betreiben und dort wird er 1960 sterben. Seine Ehefrau Lina, die mit ihm das Auswandererschicksal in Bridgeport teilt, verliert ihren Rentenanspruch nach dem Tod ihres Mannes, da für sie ein eigener Anspruch auf Rente besteht.
Das Haus in der Frankfurter Straße 60 hatten seine Eltern, Samuel und Juliane, 1908 erworben. 1925 sind Gustav und Klara Hirsch als Alleineigentümer eingetragen. Er muss es nun am 16. 1. 1939 für 14.000 RM verkaufen. Der Kaufpreis wird von den Nazi-Behörden auf 8250 RM gedrückt und auf einem unverfügbaren Sperrkonto festgelegt. Die Auflassung für den Käufer Philipp Raiss, Weißbindermeister, geschieht zum 3. 1. 1940.
Schon 1948 vermutete der Record of Property taken under Control den Verkauf als “probably changed hands under duress [Zwang]” und konkretisierte: 15% damaged by air raid [Luftangriff]….Real estate 994 qm dwelling house, 2 floors and side building, courty and garden, one floor additional building.
Gustav Hirsch 1949 fordert in einer Klage gegen Raiss, die Differenz von 5750 RM zwischen dem damaligen reduzierten Kaufpreis von 8250 RM und dem ursprünglichen für die „Hofreite Am Hospitalgarten mit Grabgarten“, wie das Grundstück im Grundbuch benannt ist, an ihn zu entrichten. Ph. Raiss erklärt sich als unschuldig dafür, dass der Kaufpreis von 14.000 RM nicht erlöst wurde und widerspricht argumentativ beim Amt für Wiedergutmachung in Darmstadt. Hirsch besteht auf seiner Forderung und er erwirkt am 27. 5. 1949 in der gerichtlichen Auseinandersetzung einen Vergleichsbeschluss, wonach ihm 5750 DM plus 1500 DM zur Verzinsung mit 4,5% zustehen. Die Geschosspläne liegen vor und Hirsch erhält sein Recht.
Als Philipp Raiss sich Anfang der 1980er Jahre das Leben nahm, vermachte er das Haus der Stadt Groß-Gerau mit der Auflage, darin eine Einrichtung für alte Menschen anzubieten. |