August-Bebel-Str. 16 (Wohnhaus der Familie Mattes; Büroräume im Erdgeschoss, Wohnräume im 1. und 2. Stock)
2012 wurde das Fabrikgebäude und eines der Wohnhäuser abgerissen zugunsten des Neubaus der Oberstufe des Prälat-Diehl-Gymnasiums. | August-Bebel-Str. 16 (ganz links) mit dem Gebäude der ehemaligen Gardinenfabrik Ecke Bahnhofstraße; Abriss 2012 |
Hier wohnte | Alter
im Jahr 1933 |
Schicksal | Bemerkungen |
---|---|---|---|
Alfred Mattes geb. 28.8.1882 Bingen gest. 29.8.1961 Chicago |
51 | Kaufmann; Sohn von Adam Mattes |
|
Paula Mattes |
48 | Flucht 1940 nach San Francisco |
Tochter von Emil Strauß aus der Schützenstraße 10 |
Arnold Mattes |
23 | Flucht 1939 über Southhampton in die USA |
Sohn von Alfred und Paula |
Ausstellung und weitere Recherchen durch SchülerInnen der Prälat-Diehl-Schule.
Historische Fotogalerie Familie Mattes
Stolpersteinverlegung am 5. Februar 2015
Familie Mattes im Stolpersteine-Guide
Recherchen ergaben folgende Informationen über die Menschen und die Häuser, in denen sie wohnten:
Über das Schicksal des Ehepaares Alfred und Paula Mattes in den Zeiten der Verfolgung finden wir vorwiegend Informationen vor, die mit ihrem wirtschaftlichen Aufstieg und Niedergang verbunden sind. Hier also die Geschichte der Firma bis zu ihrem Konkurs im Jahre 1932, wohl auch infolge der Weltwirtschaftskrise 1929 ff. Alfred Mattes wurde am 28. 8. 1882 in Bingen geboren und heiratete 1909 Paula, die Tochter von Emil Strauss aus der Schützenstraße 10 in Groß-Gerau und beide wohnten in der August-Bebel-Straße 24/26 in unmittelbarer Nähe ihrer Gardinenfabrik. Alfred starb am 29. 8. 1961 in Chicago. Seine Frau, am 29. 11. 1885 in Trebur geboren, lebte bis zu ihrem Tod 1953 in Chicago. Die Eltern von Alfred Mattes sind Adam Mattes und Johanna, geb. Haas, aus Bingen. Alfred Mattes ist lt. Meldeliste mit 3 Personen am 23. 4. 1932 nach Mainz abgemeldet worden. Die Vorfahren von Mattes sind auf dem jüdischen Friedhof in Bingen beerdigt worden so z. B. Benjamin Mattes 15.6.1810-6.8. 1881 und Sara Mattes, geb. Blum 21. 3. 1812-14. 5. 1891; „Vater“ Adam Mattes, gest. im 53. Lebensjahr am 25. 2. 1899 und „Mutter“ Johanna, geb. 15. 11. 1850, gest. am 24. 5. 1930; ferner Rosalie Mattes, geb. Abraham, geb. 7. 10. 1851, gest. 31. 1.1920 und Jakob Mattes, geb. 10. 3. 1850 gest. 10. 12. 1930. Dem Ehepaar Mattes gelingt die Flucht 1940. Wahrscheinlich sind sie auf der Fernostroute mit der transsibirischen Eisenbahn über Russland, China schließlich nach Japan gelangt. Schiffsmanifeste weisen aus, dass sie von Kobe in Japan aus nach Seattle, Washington, reisten. (s. dazu z. B. unter www.Finding Passenger Lists & Immigration Records 1820-1940s arrivals at US ports from Europe, Rubrik Seattle, Tacoma & Port Townsend, Washington Passenger & Crew Lists 1882-1957 Der Fluchtweg Ihres Sohnes Arnold führte von Southampton in England schon 1939 in die U.S. A. Im Aufbau vom 18. 4. 1947 lesen wir, dass der Sohn von Alfred und Paula Arnold Mattes sich am 13. 4. 1947 mit Margot Mattes, geb. Stern, vermählt hat. Er ist 1910 in Düsseldorf geboren, lebte später in Groß-Gerau und Frankfurt, besuchte in Darmstadt die Schule; seine Frau stammt aus Köln, beide leben später in Chicago, wo auch ihre Tochter Joan geboren und aufgewachsen ist. Sie war 5 Jahre alt, als ihre Großmutter Paula starb und 13 Jahre beim Tod ihres Großvaters Alfred. Heute lebt sie in Pittsburgh, Pensylvania. Joan Zelkowicz, geb. Mattes, würde gern mehr erfahren über die Geschwister von Alfred: Juliana, geb. 1873, den Bruder Gustav, geb. 1875, die Schwestern Auguste, geb. 1876 und Emma, geb. 1877, gest. 1879, den Bruder Julius, geb. 1879, gest. 1898 und die Schwester Elisabeth, geb. 1890. In welcher verwandtschaftlichen Beziehung Hermann = Haim, Sohn des Menachem Halevi, geb. am 18. 3. 1882, gestorben am 28. 4. 1929 und auf dem jüdischen Friedhof Groß-Geraus beerdigt (Grab C 1/28) und dessen Ehefrau Klara Mattes, geb. Freimark, geb. am 11. 2. 1885, gestorben am 26. 1. 1930, ihr Grab trägt die Nummer C2/4 zu den Mattes aus Bingen stehen, bleibt offen. Die Geschichte, die das Grundbuch Bd. XI, Nr. 848 nachvollziehen lässt, reicht in die Zeiten als es angelegt wurde und in frühe Eintragungen aus den Jahren 1895 und 1898 zurück: Margarete Petermann, geb. Schadt, die Witwe von Peter Petermann, besitzt eine „Hofreite vor dem Hospitaltor“, einen Hofraum mit Halle und Treppe sowie zwei Grabgärten Sie führt eine Gastwirtschaft, und augenscheinlich gelingt es ihr nicht immer, die Rechnungen an die Unionbrauerei und den Inhaber Ferdinand Marxsohn termingerecht zu begleichen: So schuldet sie im Februar 1911 „uns“ einmal 464,36 „Hauptgeld“ (für Bier-Lieferungen?) und erhält einen Zahlungsbefehl, 1912 sind es 280,90 „Hauptgeld“, die Maxsohn unterschriftlich einklagt. Selbst die Zwangsversteigerung der Flurstücke I Nr. 402 32/100, 402 35/100, 402 33/100 und 402 41/100 wird am 16. 3. 1914 eingetragen, aber nicht vollzogen. Nach dem Tod Margarete Petermanns am 31. 10. 1917 findet die Erbteilung zwischen Wilhelm Rompel, Stationsvorsteher in Flonheim, früher Mainz, und seiner Ehefrau Elisabetha Rompel, geb. Petermann, sowie Johannes Petermann und seiner Ehefrau Elisabeth, geb. Klink. statt. Sie weisen sich mit Identitätskarten der französischen Besatzungsbehörde beim Notar aus. Die oben genannten vier Objekte werden allein an die Alleinerben Elisabetha Rompel und Johannes Petermann, Kinder der Witwe Margarete, vererbt. In einem Kaufvertrag mit Hypothekenbestellung treffen sich am 5. 8. 1921 beim Notar Schollmeyer: Jakob Klenk, bevollmächtigt von der Witwe des Bürgermeistersekretärs Johannes Petermann, Elisabeth Barbara, geb. Klink, Groß-Gerau und diese, handelnd für ihre Kinder Johannes, Elisabetha und Anna mit Alfred Mattes, Kaufmann und seiner Ehefrau Paula, geb. Strauss aus der Schützenstraße Groß-Gerau. Die bekannten vier Objekte (Hofreite vor dem Hospitaltor, Hofreite mit Halle und Treppe und zwei Grabgärten) wechseln den Besitzer für 83.000 Mark. Was folgt, ist der Aufstieg und Niedergang des privaten und Firmenvermögens der Eheleute Mattes und ihrer Gardinenfabrik in der August-Bebel-Straße. Es ist die wechselvolle Geschichte von voluminösen Hypothekenbestellungen und Schuldenanerkennungen, Löschungsbewilligungen und erneuter Belastung der Grundstücke 1921 ff. Im Grundbuch Groß-Gerau existiert der Eintrag über einen Tauschvertrag der Alfred Mattes OHG mit Otto Faulstroh „Eisenkonstruktionswerkstätte OHG über 2 qm gegen16qm (Band XI Bl. 848 Fl. I 402 21/100 und Fl I 378 5/100 vom 30. 10. 1924) – eine wechselseitige Arrondierung von Betriebsgelände? In einem weiteren Kaufvertrag erwerben die Eheleute Mattes am 19. 5. 1924 von Karl Dammel und den Erben der am 28. 4. 1919 verstorbenen Ehefrau Margarete Raiss für 6000 Goldmark, die nach dem jeweils vom Reichsfinanzminister festgelegten inflationären Tageskurs in Papiermark umgerechnet werden, den Grabgarten vor dem Hospitaltor Fl I Nr. 402 21/100 und die Hofreite 402 25/100 mit 113qm und 232 qm. Die Verkäufer der ehemaligen Gartenstraße, danach August-Bebel-Straße 24, danach Peter-Gemeinder-Straße und dann wiederum August-Bebel-Straße, bestehen auf folgender Vertragsklausel: „Die Entrichtung des Kaufpreises im Werte von 6000 Goldmark erfolgt dadurch, dass die Käufer dem Herrn Karl Dammel auf dem Grundstück der Gemarkung Groß-Gerau Fl I Nr. 870 5/10 ein Ersatzhaus wie in dem dieser Urkunde beigefügten Originalplan angeführt, errichten lassen…. „Das soll schlüsselfertig bis zum 1. 11. 1924, also innerhalb der nächsten sechs Monate geschehen.“ Die neue Adresse des Karl Dammel ist im Nauheimer Weg zu suchen. Was kann das Interesse der Käufer an diesem Geschäft gewesen sein? Wollten sie in der Nähe ihrer Gardinenfabrik wohnen? Noch im Mai 1924 erwerben Mattes´ von Dorothea Heyn, geb. Engel, den Grabgarten „im Dömpel“ Fl. I Nr. 389 5/10 mit 146 qm dazu, Kosten 45 Goldmark pro qm, insgesamt 400 GM. Einen Monat nach dem Kauf unterwirft sich das Ehepaar Mattes der Zuständigkeit des Hessischen Amtsgerichts in Groß-Gerau für eine Sicherungshypothek bis zum Höchstbetrag von vier Kilogramm Feingold auf sechs Grundstücke (Grundbuch Bd. XI, Nr. 848). Der Messbrief nebst geometrischem Plan des Geometers Fey vom 26. 4. 1924 stellt zusammen: Fl I Nr. 378 5/10 = die Gewann „im Dömpel“, Nr. 388 4/10 und 388 7/10 = Bahnhofstraße 6, 389 3/10 und 389 5/10 die Bahnhofstraße 17 und 19, Nr. 390 3/10 = Bahnhofstraße 21 und Nr. 402 21/100 die Hofreite „vor dem Hospitaltor“. Die Hausnummer 24 in der August-Bebel-Straße ist Alfred Mattes und Ehefrau zugeordnet, das Nachbarhaus Nr. 26 noch Karl Dammel, der in das baugleiche Haus im Nauheimer Weg einziehen soll. Weiteren Zuwachs bringt der Kaufvertrag vom 30. 10. 1924 mit Heinrich Klopp und Margarete, geb. Hefner. Der Messbrief vom 24. 1. 1925 lässt auf Mattes entfallen: Grabgarten 402 21/100, Hofreite 402 35/100, Hofreite 402/ 32/100, Hofraum 402 33/100 inklusive Halle und Treppe, den Grabgarten 402 35/100 und 402 41/100, ferner die Hofreiten 402 26/100 und 402 34/ 100 sowie den Grabgarten 402 39/100. Insgesamt fast 1200 Quadratmeter. Die Hofreite Nr. 402 34/100 besteht aus Wohnhaus, Wohnhausanbau und einem Hofraum, zusammen 280 qm. Damit sind die August-Bebel-Straße 24 und 26 sowie vier Anwesen in der Bahnhofstraße „um die Ecke“ vereint. Dem großen Projekt entspricht das Ausmaß der Verschuldung: Am 24. 12. 1930 bestätigen Alfred Mattes und Paula privat wie als Inhaber der Firma Mattes oHG, dass sie von der Bezirkssparkasse 150.000 Goldmark empfangen haben, und zwar als bares Darlehen gegen hypothekarische Sicherheiten auf ihre Immobilien. Im Januar 1931 übernimmt die Gemeinde Groß-Gerau eine Bürgschaft gegenüber Mattes entsprechend der Belastung von drei Grundstücken (402 26/100, 402 34/100 und 402 39/100, jeweils 50.220 plus 72.540 plus 27.240 Feingoldmark). Am Ende des Jahres 1930, genau an Weihnachten, treten Bürgermeister Dr. Lüdecke und Ehepaar Mattes die Grundschulden an die Bezirkssparkasse ab und diese wandelt sie in Darlehensbriefhypotheken um. Auch an die Volksbank werden 10.000 GM abgetreten. Die Geschäfte müssen schlecht gegangen sein: Am 1. 7. 1931 ergeht ein Beschluss auf „Vergleichung“, um den Konkurs abzuwenden. Ein Verbot, über das Vermögen zu verfügen, wird gegen Mattes ausgesprochen. Das Vergleichsverfahren vor dem Amtsgericht Groß-Gerau findet am 16. 9. 1931 um 10.00 Uhr im großen Sitzungssaal statt: Die Schuldner sind zahlungsunfähig, wollen aber den Konkurs aufhalten. Im Vergleich sollen Forderungen bis zu 100 RM innerhalb von drei Monaten beglichen werden, die übrigen Gläubiger sollen 33 1/3 % in elf monatlichen Raten erhalten mit einer „Respektsfrist“ pro Rate von drei Wochen. Die 1. Rate soll sich auf 5 % belaufen, die 2. auf 5%, die 3. bis 10. Rate auf je 2,5 %, die 11. Rate auf 3 1/3 %. Die Forderungen von insgesamt 81 zustimmenden Gläubigern belaufen sich auf 128.703 RM, die Gesamtsumme aller 100 Gläubiger steigt auf 151.850,40 RM. Am 30. 1. 1932, ein Jahr vor der „Machtergreifung“, wird die Zwangsversteigerung wegen Zahlungsunfähigkeit angeordnet (Grundstücke Nr. 402 26/100, 402 34/100, 402 39/100). Im Konkursverfahren wird Alfred Mattes die Verfügung über sein Vermögen untersagt, und das Verfahren wird am 9. 3. 1932 eröffnet. Wer wird der neue Käufer sein? Die weitere Recherche hat ergeben: Nach erfolgter Zwangsvollstreckung teilt das Amtsgericht Groß-Gerau dem Grundbuchamt mit, dass jetzt die Gemeinde Groß-Gerau als Eigentümerin einzutragen ist und alle Eintragungen in den Abteilungen II und III des Grundbuchs zu löschen sind. Die Grunderwebsteuer auf Bd. XI Fl. I Nr. 402 26/100, 34/100, 39/100 zwei Hofreiten mit Grabgarten wird mit Datum vom 20. 7. 1932 gestundet. Fazit: Der Konkurs der Gardinenfabrik Mattes steht in keinem Zusammenhang mit den anderen Arisierungsverfahren in Groß-Gerau. Ist vielleicht zwischenzeitlich Heinrich Hirsch II. zumindest für die Immobilen in der August-Bebel-Straße als Interessent aufgetreten, bevor sie aus dem Besitz der Stadt Groß-Gerau wiederum in andere Hände übergingen? Das Hessische Staatsarchiv Darmstadt (G 28, Nr. 154) kann weiterführend darüber informieren, wer mit welchem Erfolg die Entschädigungsansprüche für Mattes 1956-1957 vertreten hat. Udo Stein und Schülerinnen der Prälat-Diehl-Schule Gross-Gerau, recherchierten 2013/2014 mit folgendem Ergebnis: Die Gardinenfabrik von Alfred und Paula Mattes bestand von 1924-1932. Ihr Wahrzeichen war ein Backsteinturm mit der „Mattes Uhr“, hergestellt von Siemens und Halske in Berlin. An 60 elektrischen Nähmaschinen wurden Gardinen, Stoffe und Spitzen im Werk produziert, unterstützt von mehreren Hundert Gerauer Heimarbeiterinnen, die in Zeiten der wachsenden Arbeitslosigkeit zum Unterhalt ihrer Familien beitrugen. Die Weltwirtschaftskrise ruinierte das Unternehmen bis hin zur Insolvenz, da die Kredite nicht mehr bedient werden konnten. Das Übrige fügte die nationalsozialistische Verfolgung vor Ort der Familie zu: „die Juden“ wurden für den Niedergang persönlich haftbar gemacht: das bedeutete gerichtliche Verfolgung und Untersuchungshaft für Alfred Mattes in Mainz, wohin die Familie inzwischen verzogen war und „Schutzhaft“ für Paula und ihren Sohn Arnold in Gross-Gerau 1933. Danach zogen Mattes´nach Frankfurt in die Beethovenstraße. 1938 übernahm die Fa. Faulstroh das Fabrikgelände. Zuerst gelang dem Sohn Arnold, dann auch seinen Eltern 1939-1940 die Flucht in die USA - mit einer Nähmaschine im Reisegepäck. Einen speziellen Blick auf die Gross-Gerauer Lokalgeschichte erlaubt das Verhalten des Bürgermeisters Bernhard Lüdecke, der sowohl 1927 ff. wie auch 1956 Bürgermeister war; er hatte den Fabrikgründern einst bei der Kreditbeschaffung mit einer Bürgschaft der Stadt geholfen, aber schon 1935, unter dem Einfluss der neuen Machthaber, verlauten lassen: „Ich bin gewillt, die Frage Mattes aus der Geschichte Groß-Geraus zu tilgen.“ Diese Haltung hat sich darin fortgesetzt, beruflichen Verlust der Mattes´ im Wiedergutmachungsverfahren nach 1945 nicht anzuerkennen wie auch die Erinnerung an die Gardinenfabrik Mattes nicht wachzuhalten. |