Verlegung Stolpersteine am Freitag, 30. Mai 2014, Mainzer Straße in Groß-Gerau
Redemanuskript Marlise Fassoth

Mein Name ist Marlise Fassoth und ich bin eigentlich keine Zeitzeugin.
Denn ich wurde in dem Jahr und Monat in Groß-Gerau geboren, als die Synagoge brannte -
im November 1938 –

Persönliche Erinnerungen habe ich an zwei jüdische Mitbürger:

An Herrn Ludwig Goldberger, denn mein Elternhaus ist schräg gegenüber dem jüdischen Friedhof.
Dieser Friedhof hatte für mich als Kind etwas mystisches!
Ludwig Goldberger war ein stattlicher, gut aussehender Mann mit dunklem Haar – aber sehr zurückhaltend, ja in sich gekehrt.
Mein Mann kannte den Lui besser.

Außer Herrn Ludwig Goldberger kannte ich Herrn David Markus. Er wohnte Ecke Darmstädter Straße / Rheinstraße (heute Gustav-Heinemann-Straße) bei der Fam. Schaffner.
Hier kaufte meine Mutter nach dem Krieg Nähmaterial – sie hat geschneidert.

Meine Mutter war aus Michelstadt im Odenwald und war bei der Familie Guckenheimer in Stellung – so bezeichnete man damals die Dienstmädchen.
Die Firma Guckenheimer hatte einen Baustoffhandel in der Walter-Rathenau-Straße / Ecke Jahnstraße.
Wir hatten ein Foto, auf dem die Tochter, Erna Guckenheimer, und meine Mutter an einem Fenster des turmartigen Erkers zu sehen sind.
Mein Vater war Maurer bei einer Groß-Gerauer Baufirma und wird meine Mutter beim Holen von Baumaterial kennengelernt haben.
Meiner Mutter ging es bei den Guckenheimers sehr gut, das hat sie mir immer erzählt.

Ihre Erzählungen haben mich wohl geprägt!

Zu den Geschwistern Strauß:
Eigentlich müsste jetzt hier der Ernst Fassoth als echter Zeitzeuge stehen, denn er hat als kleiner Bub hier gegenüber (Hausnummer 18) durch ein Astloch im Tor gesehen, wie der Jude Siegmund Strauß aus dem Haus getrieben und misshandelt wurde.

Solche Ereignisse prägen sich ein.

Als die Idee „Stolpersteine gegen das Vergessen“ auch in Groß-Gerau zu verlegen, diskutiert wurde sagte er: „Ich möchte einen Stein für diesen armen alten Mann spenden!“.
„Na gut“, sagte ich „ich übernehme die Schwester“!
Für die zweite Schwester hat jetzt die Familie Burg die Patenschaft übernommen. Denn auf einem Teil ihres Grundstücks hat das Haus der Familie Strauß gestanden (siehe Lageplan).
Es ist begrüßenswert, dass sich Hauseigentümer mit der Geschichte ihrer Häuser befassen und Patenschaften übernehmen. Das ist an den drei bereits verlegten Orten auch schon geschehen.

Leider hat sich alles so langsam entwickelt, dass mein Mann bereits seit 3 Jahren tot ist.

Als Siegmund Strauß den Rest seines Warenbestandes – aus Schachteln als Hausierer – zu verkaufen versuchte, lebten die Geschwister in sehr ärmlichen Verhältnissen.
Die Tochter von Frau Jourdan, Frau Mila Zimmermann, erzählte mir, dass ihre Mutter oft Lebensmittel an das kleine Fenster der Strauß-Familie, das zum Jourdanschen Hof ging, legte. Zum Teil vergrub sie auch Essbares am Gartenzaun und die Strauß-Geschwister holten es abends aus dem Versteck.

Es gibt kein Bild von den Geschwistern Strauß – so als seien sie nie dagewesen.
Nun haben sie wieder einen Namen!

Nun zum Haus Nr. 22 (damals Nr. 24) – das rote Haus:
Der Hauseigentümer war der Bauer Georg Engeroff. Er war ledig.
Vor den Goldbergers wohnte bei ihm im 1. Stock die Jüdin Frau Hannchen Wolf, die Witwe von Jonas Wolf. Sie verstarb 1937 und ist auf dem jüdischen Friedhof beerdigt.
Die Goldbergers wohnten später im Seitenbau in sehr engen Verhältnissen.

Meine Schwiegereltern wohnten ab 1940 im 1. Stock. Mein Schwiegervater ist 1942 in Russland gefallen. Nach dem Krieg vererbte Georg Engeroff meiner Schwiegermutter das gesamte Anwesen.

Von 1962 – 1976 wohnten wir mit unserem Sohn im 1. Stock.
Unser Hausarzt war Dr. Rudolf Schadt. Wenn er zu uns kam, ging er durch das Zimmer, blieb am Fenster stehen und sagte: „Hier am Fenster hat die Frau Wolf auf einem Podest in ihrem Sessel gesessen!“

Von meinem Mann weiß ich, Georg Engeroff war ein Mann, der den Hitler und die Nazis hasste.
Er führte oft Selbstgespräche oder reagierte auf Radiodurchsagen und schimpfte: „Die Verbrecher, die Bande, die Volksverhetzer“.
Da hatte mein Mann natürlich heimlich gelauscht.

Jetzt noch etwas, was mich persönlich beschäftigt: Ich, die Dialekt schwätzt – wieso sage ich „der war Jude“ und nicht „Judd“? „Sie war Jüdin“ anstatt „Juddessen“?  In der Mehrzahl klappt’s: Die Evangelischen, die Katholiken, die Juden.

Nochmal zum „Schachtel-Judd“. Wäre er kein Jude gewesen, dann wäre er der „Schachtel-Strauß“  gewesen. Oder der „Geils-Judd“ aus de Hintergass‘ wäre der „Geils-Strauß“ gewesen. Der „Heit-Judd“ aus de Hintergass‘ wäre der „Heit-Hirsch“ gewesen. Genauso wie’s de Zigarren-Schaffner und de China-Schaffner, der Hut-Baumann“ oder de Baumannsaff gewwe hat.
Deshalb ist „Schachtel-Judd“ für mich net de Name eines Gerer Originals – sondern diese Bezeichnung beinhaltet für mich Antisemitismus.

Erklärung für nicht Dialektsprecher:
Geilsjud = Geils-Strauss = Pferde-Strauss = Pferdehändler Strauss
Heitjud = Heit-Hirsch = Häute-Hirsch = Häute- und Fellhändler Hirsch