Vorbericht von Beth Hirsch und

Redebeiträge von Austin und Bruni Hirsch

Beth Hirsch
Reise der Familie Hirsch nach Groß-Gerau, Deutschland
anlässlich der Stolpersteinverlegung für Familie Hirsch

Es geschieht nicht so oft im Leben, dass man die Chance bekommt, an einem einzigartig tiefschürfenden Ereignis teilzunehmen. Viele von uns dürfen die beglückende Erfahrung der Geburt eines Kindes oder einer Hochzeit machen oder haben zumindest am „guten“ Tod eines geliebten Menschen teil. Unsere Familie hatte das große Glück, an allen drei wichtigen Stationen des Lebens teilzuhaben. Aber über diese normalen Gelegenheiten hinaus konnten wir am 20. und 21. Mai zu unseren lebensverändernden Erfahrungen die Erfahrung hinzufügen, an der Verlegung von vier Stolpersteinen vor dem Haus von Austins Großeltern väterlicherseits in Groß-Gerau, Deutschland teilzunehmen.

Zum Hintergrund: Vor ungefähr eineinhalb Jahren wurden wir von einem Oberstufenkurs aus Groß-Gerau kontaktiert. Der Kurs recherchierte, was einigen der Groß-Gerauer Familien während des Holocaust zugestoßen war, und fand dabei ein Dokument, das eine verdächtige Geschichte von einem hübschen Haus, das 1934 weit unter dem Marktwert verkauft wurde, erzählte. Nach weiteren intensiven Recherchen fanden sie heraus, dass das Haus der Familie Hirsch gehört hatte und dass diese es verkauft hatten, um möglichst schnell nach Amerika auszureisen. Der Kurs fand unter der fürsorglichen und fachkundigen Leitung ihres Lehrers; Herrn Christian Elbert, heraus, dass 1949, nach dem Krieg, so eine Art bescheidener Entschädigung an die Familie Hirsch gezahlt wurde. Computer und Googles Suchmaschine haben Recherchen viel leichter zugänglich gemacht, und wundersamer weise fanden sie Austins Emailadresse. Der Kurs schrieb uns per Email mit der Frage, ob wir irgendwelche Dokumente, Bilder und Geschichten hätten, die Licht auf das Leben von August und Ella Hirsch werfen würden. Der Kurs hatte viele Fragen, darunter die Fragen, ob August und Ella jemals über ihr Leben in Deutschland gesprochen hätten, warum sie nach Frankfurt und dann nach Chicago gegangen seien und wie sie ihr neues Leben in Chicago begonnen hätten. Sie stellten viele wunderbare und bohrende Fragen. Aber wie so oft bei Menschen, die Traumata durchlebt haben, blieb vieles von ihrem [Ellas und Augusts] vergangenen Leben in Deutschland für Austin und seine Schwester eine unbekannte Geschichte. Über die Vergangenheit wurde nicht gesprochen.

Wir konnten den Schülern über das Leben von August und Ella in Hyde Park, Chicago berichten, über die Hochzeit von Burt (Bruno) mit Ellen, den Geburten der Enkel Austin und Diane, und dass es jetzt Urenkel gibt, Danielle und Bruni, und Ururenkel, Beatrice, Samuel und Ella. Wir konnten die Fotografien und Dokumente schicken, die wir hatten, und ein Bild der schönen Truhe, die das einzige Möbelstück war, dass sie nach Chicago mitbringen konnten. Die Truhe wurde von einem deutschen Handwerker liebevoll restauriert und steht jetzt in unserem Wohnzimmer.

Die Schüler nahmen unsere Gegenstände und machten daraus eine kleine Museumsausstellung in ihrer Schule und schickten uns eine Kopie ihres fertigen Produkts Anfang März mit einer Einladung, an einer Stolpersteinverlegung teilzunehmen. Austin und ich merkten sofort, dass dies ein einmalige Gelegenheit war und dazu eine, die wir ohne Rücksicht auf Kosten und Aufwand ergreifen mussten. Unsere Töchter Danielle und Bruni wollten auch kommen und es wurde entschieden, dass Ella, das Baby mit sechs Monaten, ebenfalls an dem Abenteuer teilnehmen würde. Ellas Teilnahme fügte dem Ereignis eine bestimmte Symmetrie hinzu, denn Ella Zoe Hirsch Muram würde nun vor dem Haus ihrer Großmutter, Ella Meyerfeld Hirsch, stehen können. Das Leben ist tatsächlich ein schöner Kreis.

Vor der Verlegung der Stolpersteine zeigten uns, begleitet von Herrn Wolfgang Prawitz, Herr Elbert und viele Oberstufenschüler stolz ihre neue Schule mit ihren wissenschaftlichen Labors und Unterrichtsräumen. Die Schule hat ihre eigenen Stolpersteine, denn die Schule ist auf einem Grundstück errichtet worden, auf dem früher eine Tischwäschefabrik stand, die jüdische Besitzer hatte. Nach einem wundervollen Empfang gingen wir zu dem Ort, wo früher die Synagoge stand, an die heute mit einem hübschen Bronzedenkmal erinnert wird. Wir sahen neue andere Orte, an denen Stolpersteine verlegt sind. Die Familien Hirsch, Guthmann und Guckenheimer werden die Orte Elf, Zwölf und Dreizehn sein. Es wird erwartet, dass es wohl um die zweihundert Orte sein werden, die den Kriterien für Stolpersteinverlegungen in der Zukunft entsprechen.

Uns wurde berichtet, dass für das Verlegen von Stolpersteinen einige Überzeugungskraft nötig war, und es war offensichtlich, dass es immer noch Ambivalenzen zu dem Programm gibt, auch heute noch. Die Steine wurden durch die erstaunliche Großzügigkeit ganz normaler Bürger finanziert. Die Familie, die im vormaligen Haus der Familie Hirsch in der Walther-Rathenau-Straße 11 lebt, hat selbst einen der Steine vor ihrem Haus übernommen. Es ist dieselbe Familie, die das Haus von August und Ella gekauft hatte, was komplizierte und widerstreitende Gefühle hervorgerufen hat. Die Familie schien dankbar zu sein, dass wir gekommen waren, und wir waren dankbar, dass sich drei Generationen treffen konnten, die mit dem Haus verbunden waren.

Es war ein Treffen der Versöhnung auf beiden Seiten. – Es füllte eine historische Lücke in Austins persönlicher Geschichte und ließ ihn seine deutschen Wurzeln sehen. Und für die Familie, so vermute ich, war es beruhigend, dass im Vergehen der Zeit neue Generationen sich nicht länger für die Taten ihrer Vorfahren verantwortlich fühlen müssen. Zwei Familien sind in denselben Ziegeln und Mörtel verwurzelt.

Besonders zu erwähnen war die erstaunliche Gastfreundschaft und Großzügigkeit der Groß-Gerauer Bürger, die sie während unseres Aufenthalts zeigten. Sie gaben ihre Zeit, ihre Ressourcen und Ihr Freundschaftsversprechen und sind die Verbindung mit einer unbekannten jüdischen Familie aus Chicago mit offenen Armen eingegangen. Tiefe Wertschätzung gebührt den Oberstufenschülern, die so eifrig und enthusiastisch an das Projekt ihres Wahlpflichtkurses gemacht haben und Interesse am Leben unserer Familie gezeigt haben. Sie sind die Hoffnung auf eine bessere Welt. Unsere Tochter Bruni hat bei dem Ereignis einige Bemerkungen gemacht. Sie hat auf Deutsch zu den Anwesenden gesprochen und es erst dann für uns ins Englische übersetzt. Sie hat in unserem Haus eine Brücke zwischen den beiden Kulturen geschmiedet und dabei die deutschen Dinge einbezogen und hat gezeigt, wie die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft annehmbar zusammen kommen können.

Im Besonderen werden wir immer eine große Hochachtung für Herrn Elbert haben, den Lehrer, der seinen Kurs durch das Projekt geführt hat und ein begeisterter Lehrer und Gastgeber war, und für Herrn Prawitz, der uns von dem Moment an, als er uns am Bahnhof abgeholt hat, bis zur Fahrt zurück zum Flughafen mit Aufmerksamkeit überschüttet hat und sich um unsere Bedürfnisse gekümmert hat. Wolfgang Prawitz ist die Verkörperung des perfekten kirchlichen Leiters, wie wir in unserer amerikanischen Sprache sagen, ein Mann, der „walks the walk and talks the talk“ – seinen Worten Taten folgen lässt. Er hat große Leidenschaft dafür, dass Deutschland die Shoah erinnert, und spürt die Notwendigkeit, dass junge Menschen in Groß-Gerau lernen, verantwortliche Weltbürger zu werden und nie mehr die Fehler der Vergangenheit zu wiederholen.

Wir waren und sind gesegnet, Teil dieses ganzen Prozesses der Versöhnung zu sein.

Es wird bleiben als eine machtvolle Erinnerung, die wir mit unseren Enkeln Beatrice, Samuel und Ella teilen werden, sobald sie unsere Erinnerungen verstehen können und zuhören, wenn wir ihnen die wichtigen Begebenheiten unseres Lebens erzählen werden. Wir sind dankbar und voller Hoffnung, dass unserer Welt durch Programme wie die Verlegung von Stolpersteinen ein besserer Ort sein wird.

Anmerkungen von Austin Hirsch bei der Stolpersteinverlegung am 21. Mai 2016:

Ich bin Austin Hirsch, auf dem Bild das Baby in dem Kinderwagen, der von meiner Großmutter in Chicago, Illinois geschoben wird, das war vor 66 Jahren. Im Namen der verzweigten Familie Hirsch, meiner geliebten Großeltern Ella Meyerfeld Hirsch und August Hirsch, meines Vaters Burt, genannt Bruno, und seines Bruders, meines Onkels Kurt, und meiner Frau Beth, meiner Töchter Danielle und Bruni und meiner Enkelin Ella möchte ich der Gemeinde Groß-Gerau und allen ihren Offiziellen danken, Herrn Wolfgang Prawitz, Herrn Christian Elbert und seinem Kurs und dem Künstler, Herrn Gunter Demnig, dafür dass Sie diesen Tag möglich gemacht haben.

Die Stolpersteine lehren uns, wofür Gunter Demnig sich einsetzt und was im Talmud geschrieben ist, dass „ein Mensch erst vergessen ist, wenn sein Name vergessen wurde“. Wir sind sehr stolz über die Ehre, die unserer Familie durch diese Gemeinde damit zuteil wird.

Ich möchte nur anmerken, dass, in Ergänzung zu den Stolpersteinen, die Namen von August und Ella bewahrt werden und heute hier sind, denn es ist eine jüdische Tradition, nach geliebten verstorbenen Verwandten benannt zu werden. Ich habe meinen Namen von meinem Großvater August und unsere Tochter Bruni haben wir nach meinem Vater Bruno benannt. Und ihre Tochter, meine Enkelin, ist nach ihrer Großmutter Ella benannt. Wir hoffen, dass wir in diesen Namen unsere Leben so leben, dass ihre Erinnerung zu einem fortdauernden Segen wird. Ich möchte auch meine beiden anderen Enkel erwähnen, die unser Leben wertvoller gemacht haben und die nächste Generation bereichert haben. Aus organisatorischen Gründen sind Danielles kleine Kinder, Beatrice und Samuel, zu Hause in einem Vorort von Chicago geblieben.

Unsere Familie ist sehr stolz auf die Arbeit der Schüler, die sich an dieses Projekt gemacht haben und denen es gelungen ist, eine Brücke zwischen der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft zu schmieden.

Vielen Dank.

Anmerkungen von Bruni Hirsch bei der Stolpersteinverlegung am 21. Mai 2016:

Guten Morgen, Mitglieder der Gemeinde Groß-Gerau,

Mein Name ist Bruni Hirsch und ich bin Austin Hirschs Tochter. Ich freue mich, heute Morgen hier vor der Walther-Rathenau-Straße 11 zu stehen. In mehreren Hinsichten war unsere Familie bestrebt, sich mit ihren deutschen Wurzeln wieder zu verbinden. So begann ich Deutschunterricht zu nehmen, als ich jünger war (mein Deutsch sollte jetzt viel besser sein!), und wir besuchten als Familie Berlin, als ich ungefähr 10 Jahre alt war. Danach studierte ich in Tübingen und lebte dann einige Jahre knapp außerhalb von Hamburg, später dann Berlin. Meine Eltern und meine Schwester haben mich oft besucht und sie scherzten, dass sie viel häufiger nach Deutschland reisten als sie jemals vorausgeahnt hätten. Obwohl wir alle mehrfach über den Frankfurter Flughafen geflogen waren, haben wir trotzdem nie die kurze Zugfahrt nach Groß-Gerau gemacht. In Wahrheit haben wir nie eine Verbindung zu dieser Gemeinde oder Stadt empfunden.

Ich muss zugeben, dass ich überrascht war (oder vielleicht auch schockiert), als wir die erste Email von Herrn Elbert erhielten. Mein erster Gedanke war: „Ist das ein Scherz? Warum sollte ein Oberstufenkurs daran interessiert sein, mehr über meine Familie zu erfahren? Sind wir wirklich interessant genug, dass jemand über uns Nachforschungen anstellt?“ Ich hätte nicht gedacht, dass die Korrespondenz zwischen Herrn Elbert und der Familie Hirsch möglicherweise zu einer Stolpersteinverlegung vor dem Heim der Familie Hirsch führen würde. Ich möchte dazu sagen, dass meine Urgroßeltern (August und Ella) und meine Großeltern (Ellen und Bruno) sehr erfreut wären zu wissen, dass ihre Geschichte und ihre Notlage thematisiert werden, um deutsche Jugendliche über Deutschlands Geschichte zu unterrichten.

Das ist sehr bedeutsam für meine Familie, und wir danken Ihnen, dass Sie uns helfen, uns wieder mit unseren deutschen Wurzeln wie auch den Wurzeln in Groß-Gerau zu verbinden. Ich fühle mich besonders dadurch erfreut, dass die Stolpersteinverlegung heute stattfindet, und nicht schon vor einem Jahr, so dass ich meine Tochter Ella mitbringen konnte. Sie ist tatsächlich nach Ella Hirsch benannt. Weil sie noch zu jung ist, um zu verstehen, dass der heutige Tag für unsere Familie etwas ganz Besonderes ist, werden wir ganz sicher viele Fotos machen! Und eines Tages wird sie dann hoffentlich zusammen mit den Kindern meiner Schwester, Beatrice und Samuel, hierher zurückkehren, wenn sie ein bisschen älter sind.