Pogromnacht - der 10. November
Am 10. November 1938, kurz vor 5 Uhr morgens, fuhr F.G. (Der Name der Augenzeugin ist bekannt. Sie möchte jedoch, auch nach so vielen Jahren, nicht mit ihrem vollen Namen genannt werden.) auf ihrem Fahrrad zur Stadt. Sie wohnte in der neu errichteten Siedlung zwischen Eisenbahn und Woogsdamm. Normalerweise war alles finster um diese Tageszeit, nun aber leuchtete der Himmel über der Stadt rot auf. F. G. sputete sich, zu ihrer Arbeitsstelle in der Nähe der Stadtkirche zu kommen, einer der 26 Käsereien, die es einmal vor dem I. Weltkrieg in Groß-Gerau gegeben hat. Auf dem Balkon einer der Handkäsefabriken standen die ganze Belegschaft, etwa 20 Personen, meist Mädchen und Frauen, der Vorarbeiter und der Chef*. F. G. erreichte den Balkon. Da sah sie es: Die Synagoge brannte. Auf dem Balkon herrschte Stillschweigen. Nur der Chef schrie: „Das geschieht ihnen recht!“ Und sein Vorarbeiter brüllte: „Heil Hitler!“ Niemand erwiderte etwas, alle hatten Angst vor dem Chef. Im Keller, wo die Mädchen und die Frauen arbeiteten, hatte er später, als der Krieg schon ausgebrochen war, eine schwarze Hand an die Mauer malen lassen. Da stand geschrieben: „Feind hört mit!“ Als F. G. das zum ersten Mal sah, entfuhr ihr spontan: „Was ist das für eine Schmiererei!“ Der Chef hatte ihre Worte aufgefangen und fuhr sie barsch an. Er drohte, sie vor das Kriegsgericht zu bringen. Tagelang, wochenlang lebte F. G. in der Angst, in ein Konzentrationslager gebracht zu werden.
*Name ist der Redaktion aus dem Augenzeugenbericht bekannt.
Über den Überfall auf das Haus des Gemeindevorstehers Gustav Hirsch in der "Kristallnacht" steht uns eine ausführliche Zeugenaussage zur Verfügung: "Hier war wieder die SA, sie umstand das Haus von allen Seiten. Jenseits der SA-Kette versammelten sich neugierige Bürger. Sie sahen ruhig und nachdenklich aus, ohne Aufregung oder Begeisterung. Ich weiß nicht, ob die Menschen verängstigt oder entsetzt waren. Sie machten einen etwas bedrückten Eindruck. Sie standen einfach da. Einige waren im einstöckigen Haus und warfen Gegenstände aus den Fenstern heraus. Plötzlich schrie ein SA-Mann von unten: ,Du mußt hinter den Spiegeln und den Bildern suchen, dort verstecken sie das Geld`. Ich sah Gestalten an den Fenstern. Sie warfen Bettzeug auf die Straße und die anwesenden Menschen nahmen die Sachen mit nach Hause. Es wurden Möbel herausgeworfen und auch ein Spiegel." Eine andere Zeugin, die sich die Ausschreitungen der Gewalttäter in den Häusern der Juden mitansah, erzählte, daß jene die Kissen durchschnitten und die herausfallenden Federn in den Straßen herumflogen. Der entstandene Anblick erinnerte sie an das Märchen von Frau Holle. Die jüdischen Männer wurden festgenommen und in die Bürgermeisterei gebracht. Die Festnahme wurde als "Schutzhaft" vor der aufgebrachten Menge bezeichnet. Die Nazizeitung berichtete auch, "daß ihnen kein Haar gekrümmt wurde".
Nachdem die Juden in der Bürgermeisterei gedemütigt worden waren, wurden zwölf der Verhafteten auf den Marktplatz gebracht. Auf dem Platz wurde an ihnen der "letzte Apell" durchexerziert, und sie mußten "Turnübungen" durchführen, bevor man sie auf Lastwagen verlud, die sie nach Buchenwald ins Konzentrationslager brachten. Der jüngste unter ihnen war mit 16 Jahren Ludwig Meier und der älteste Markus Schott, 74 Jahre alt.
Ein Chronist berichtet: "Auf den Gesichtern der umherstehenden Neugierigen erschien ein dümmliches Lächeln, es ist anzunehmen, nicht wegen ihrer Boshaftigkeit sondern aus ihrer Angst heraus in Bezug auf ihr eigenes Schicksal, ihres kleinen Ichs wegen". Sieben der Verhafteten wurden in das Konzentrationslager Buchenwald geschickt, fünf alte Männer wurden an Ort und Stelle entlassen. Der Kreiskommandant der NSDAP schaute diesem beleidigenden Schauspiel hinter den Vorhängen seines Büros zu. Der Chronist beendet seinen Bericht: "Danach wurden die Rechtlosen auf einen Lastwagen verladen und zusammen mit dem Motorengeräusch hörte man das gezwungene Singen der Verhafteten: ,Muß i denn, muß i denn zum Städtele hinaus und du mein Schatz bleibst hier`. Ehrelosigkeit kann auf vielfältige Art und Weise ausgedrückt werden. Hier benutzte man ein gutes und altes Volkslied, um die Erniedrigungshandlung zu vervollständigen."
Unten: Nach dem Pogrom verhaftete Juden auf dem Appellplatz des KZ Buchenwald bei Weimar, aufgenommen von der SS von der Balustrade des Haupttores. Rechts: Appellplatz mit dem Haupttor heute |
Am 10. November berichtete der Nazibürgermeister Götz seinen Vorgesetzten, daß die Synagoge und das kleine Gebäude auf dem Friedhof vollständig ausgebrannt seien und daß großer Sachschaden an den Häusern von Juden verursacht worden sei.
Was in diesen Tagen geschah, entnehmen wir drei Zeitungsmeldungen von 1949 und 1951, die über die "Judenaktion von 1938" vor der Strafkammer des Landgerichts Darmstadt berichten. Dies war die erste und einzige Verhandlung der Ereignisse von 1938 vor einem ordentlichen Gericht.
Dokument aus der Heimatzeitung vom 10. 12. 1949 Gerauer Juden-Aktion vor der Strafkammer Vor der Strafkammer II des Landgerichts Darmstadt begann am Freitag der lang erwartete Strafprozeß gegen sieben der Teilnahme an den Groß-Gerauer Judenverfolgungen im Jahre 1938 angeklagte ehemalige Partei- und SA-Angehörige. Auf der Anklagebank saßen der frühere SA-Standartenführer Hans-Jakob Heid, jetzt wohnhaft in Waldmichelbach i. Odw., der Groß-Gerauer Ortsgruppenleiter und Kreispropagandaleiter Hch. Schad, Heinrich Lochmann (jetzt Gießen), Franz Arnold, der Uhrmacher Walter Heß, Philipp Schleidt und Johann Jakob Arnold. Die schweren Ausschreitungen gegen die jüdische Bevölkerung, die in ganz Deutschland auf Befehl der Reichsleitung der NSDAP nach der Ermordung des Legationsrat v. Rath durchgeführt wurden, spielten sich in Groß-Gerau an drei Tagen ab. Den Auftakt bildete am 10. November 1938 die Brandlegung an die Synagoge, die durch das Feuer vernichtet wurde. Im Anschluß an diese erste Heldentat wurden zahlreiche Häuser von Juden überfallen, die Wohnungen und Läden geplündert oder verwüstet. Vornehmlich die Juden Emil Marx (Kirchstraße), Siegfried Kahn (Mittelstraße 2) und der Metzger Moritz Schott (Helwigstraße) hatten zu leiden. Ihr Haus- und Geschäftsinventar wurde in hunnenhafter Weise demoliert, auf die Straße geworfen und dort verbrannt, wobei die anwesende Feuerwehr Befehl hatte, die Hände in die Hosentaschen zu stecken. Von den in großer Zahl verhafteten Juden wurden mehrere aus Groß-Gerau mit ungewissem Ziel abtransportiert. Am 11. November abends verbot die Regierung weitere Ausschreitungen und am 12. November befahl der Landrat die Rückgabe allen Plündergutes. Die Polizei ließ, um weiteren Diebstählen vorzubeugen, die Türen zu den Judenwohnungen zunageln. Trotz des Verbots gingen aber die wilden Aktionen weiter. Um 20 Uhr sammelte sich eine größere Menschenmenge in drohender Haltung vor dem Wirthwein'schen Hause an, angefeuert von einigen heißspornigen PG's. Die HJ drang in das Wirtwein'sche Geschäft ein und wollte dem Juden Marx an den Kragen; Marx konnte jedoch durch das Fenster flüchten. Es wäre ihm wohl trotzdem leicht ein Leid geschehen, wenn ihm nicht plötzlich in dem Polizeimeister Schaffner ein Helfer in seiner Not erschienen wäre, der die Eindringlinge fortjagte, das Haus schloß und Marx mit auf die Wache - in Sicherheit - nahm. Der Weg zum Polizeigebäude war freilich für beide ein Spicßrutenlauf. Etwas später rettete Schaffner einen weiteren Juden, Siegmund Strauß, vor einer johlenden Menge, die ihn in Unterwäsche auf einem Leiterwagen durch die nächtliche Stadt fuhr, Strauß wurde ebenso wie danach noch die Juden Ferdinand Hirsch und Moritz Goldberger auf die Wache in Sicherheit gebracht. Von den Gewalttätern wurden die Angeklagten ermittelt. Einige andere wurden bereits früher abgeurteilt. Über den Fortgang der Verhandlung berichten wir in unserer nächsten
Ausgabe. |
Dokument aus der Heimatzeitung vom 26. 4. 1951 Groß-Gerauer SA-Standartenführer angeklagt Vor der Großen Strafkammer I beim Landgericht in Darmstadt begann
am Montag ein mehrtägiges Verfahren wegen Landfriedensbruches gegen
den landwirtschaftlichen Hilfsarbeiter H. H. aus Waldmichelbach, den früheren
Standartenführer der SA in Groß-Gerau, sowie den 46jahrigen
Arbeiter H. Sch. Groß-Gerau. |
Dokument aus der Heimatzeitung vom 8. 5. 1951 Freispruch im Groß-Gerauer Plünderungsprozeß Nach zweitägiger Verhandlung vor der Ersten Großen Strafkammer beim Landgericht Darmstadt unter Vorsitz von Landgerichtsrat Dr. v. Thyssenhausen gegen den landwirtschaftlichen Hilfsarbeiter H.H. aus Waldmichelbach, den früheren Standartenführer der SA in Groß-Gerau sowie den 46jährigen Arbeiter H. Sch. - Groß-Gerau, sprach die Kammer beide Angeklagte mangels Beweises wegen Landfriedensbruch und Plünderung frei. Auch am zweiten Verhandlungstag wurde noch einmal Polizeiobermeister Schaffner vernommen, der klipp und klar erklärte, die Angeklagten an der Judenwohnung Marx getroffen und mit auf die Polizeiwache genommen zu haben. Dort habe er aus ihren Taschen Geld, Schmuck und Münzen zutage gefördert und auf einem Tisch ablegen lassen. "Ich war jedenfalls sprachlos, H., nachdem wir morgens noch zusammen waren, abends in dieser verfänglichen Situation, an dem Judenhaus Marx zu sehen. Sch. hat auf der Polizeiwache zu mir noch gesagt: Wir wollen auch eine Quittung über das Geld, die Münzen und den Schmuck haben". Schaffner meinte, sich besonders an diesen Samstag erinnern zu können, da bei der Sistierung der Angeklagten aus einer nahegelegenen Wirtschaft einige Sangesbrüder gekommen seien, bei deren Herannahen er wegen dieser Persönlichkeiten auf der Straße keine Visitation habe vornehmen können, sondern die Angeklagten mit auf die Wache genommen habe. Es sei außerdem an dem Tag gewesen, an dem ein jüdischer Einwohner, nur mit einer Unterhose bekleidet, auf die Polizeiwache gebracht worden sei. Wenn er H. nicht in dieser verfänglichen Situation gesehen habe, sei es für ihn ausgeschlossen gewesen, zu glauben, daß H. sich überhaupt in einer Judenwohnung an etwas vergreifen werden. So aber, habe er seine Meinung ändern müssen. In der Urteilsbegründung stellte das Gericht fest, daß vom 9. bis 12. November in Groß-Gerau eine Judenaktion gelaufen sei, die zu den übelsten im Rhein-Main-Gebiet gehöre. Nach dem Abbrennen der Synagoge sei man auch hier in Judenwohnungen eingedrungen und seien Juden zum Teil mißhandelt und in ihrem Besitz geschädigt worden. Erwiesen sei, daß die Angeklagten und andere an einem Tag - wahrscheinlich sei es der Donnerstag gewesen - in Judenwohnungen gewesen seien, mit dem Auftrag ihrer NS-Vorgesetzten, dort Devisen, Geld und Schmuck sicherzustellen. Bei einer solchen Aktion sei auch Polizeiobermeister Schaffner hinzugezogen worden. Der Verdacht bestehe, daß nach dieser sog. amtlichen Sicherstellung diese und Angeklagte früherer Verhandlungen noch einmal nachts eigenmächtige Aktionen durchgeführt hätten, da bei der sog. amtlichen Sicherstellung ein feuerfester Panzerschrank nicht geöffnet werden konnte. Die Aussagen von Schaffner aber enthielten, auch gegenüber früheren Aussagen, dermaßen viel Widersprüche, die in der Verhandlung auf Grund von Erinnerungslücken nicht aufgeklärt werden konnten, so daß Schaffners Aussagen nicht zu einer Verurteilung verwertet werden konnten. Nach altem erprobtem Rechtsempfinden sei aber im Zweifel immer zu Gunsten
der Angeklagten zu entscheiden. Auf Grund anderer Zeugenaussagen komme
das Gericht zu dem Schluß, daß Sch. die Angeklagten nicht
am 12. November, sondern bereits am 10. November getroffen haben müsse.
Der Irrtum Schaffners sei vielleicht damit zu erklären, daß
er infolge der turbulenten Verhältnisse dieser Tage die sichergestellten
Wertsachen später erst abgeliefert und seine Eintragungen ins Protokollbuch
ebenfalls erst später gemacht habe. |