Erinnerungsarbeit baut Brücken in die Zukunft
Neue Informationen über das Schicksal jüdischer Menschen in Groß-Gerau

Der 70. Jahrestag der Pogrome vom 9. 11. 1938 gibt viele Anlässe zu wachsamem Erinnern und Gedenken sowohl in Groß-Gerau vor Ort wie auch vor dem 20. Jahrestag der deutschen Einheit im kommenden Jahr.

Die Vergangenheit der nationalsozialistischen Verbrechen in Ideologie und Praxis, die nicht vergehen will und kann, holt unser kollektives Gedächtnis immer wieder ein: Kaum ein Ereignis der Bundesrepublik vor und nach 1989, das nicht mit der gleichsam allgegenwärtigen Vergangenheit so der so verknüpft wird:

Denken Sie an die Verjährungsdebatten der Jahre 1965-1979, den Auschwitz-Prozess 1963-1965, den Historikerstreit 1986 ff. (um den behaupteten kausalen Nexus kommunistischer mit faschistischen Verbrechen) , den Walser-Bubis Streit 1998 (um die „Auschwitzkeule“), neuerdings um die mediale und gerichtliche Auseinandersetzung zwischen Henryk M. Broder und Evelyn-Hecht-Galinski, Tochter des 1. und 4. Präsidenten des Zentralrats der Juden in Dtld. (darüber, wie die antizionistische Kritik an Israel aussehen darf, ohne zugleich antisemitisch zu sein) und aktuell an die Fehlleistung des deutschen Ökonomie Professors und Ifo-Chefs Hans Werner Sinn (über den bodenlosen Vergleich zwischen Juden 1929 und Bankmanager in der Finanzkrise heute). Und denken Sie vor allem an den permanenten Untergrund und die „ausländerfreien Zonen“ des virulenten Rechtsextremismus von Modernisierungsverlierern und Ewig-Gestrigen.

U n s e r e Recherche der jüdischen Geschichte Groß-Geraus beginnt in den 80er Jahren. Damals öffnete die bedeutende Rede Richard von Weizsäckers zum 40. Jahrestag des 8. 5. 1945 die Perspektive auf die Befreiung, indem er auf die verschiedenen Opfergruppen unter dem NS blickte, die deutschen Bombenopfer und Vertriebenen nicht ausgenommen. Aber Ursachen und Folgen nicht zu verwechseln, war die Richtschnur für Vergleiche z. B. zwischen ns. Krieg im Osten und Vertreibung der Deutschen infolge dieses Krieges; oder für Vergleiche der Bombardierung von Städten und der zivilen Opfer. Zentraler Satz: „Das Vergessenwollen verlängert das Exil, und das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung." Eine Weisheit des Talmud (oder zum Mitnehmen in der Kurzfassung der jüdischen Schriftstellerin, demnächst auf dem Reich-Ranitzki-Lehrstuhl in Jerusalem Ruth Klüger. „Erinnerung erlöst“.

Wir, das sind Hans-Georg Vorndran, und ich, Jürgen Ziegler, beide Mitglied im Förderverein Jüdische Geschichte und Kultur im Kreis Groß-Gerau e.V., waren und sind vom universalen und identitätsstiftenden Geist dieser befreienden Rede überzeugt und wollen uns mit der alltäglichen Erfahrung --auch vor Ort - auseinandersetzen -wo diese nämlich stillschweigend und auch lauthals im gegenteiligen Konsens lebt: „Das Geheimnis der Erlösung heißt Vergessen.“

Es war die Zeit der oral history, Zeit, noch lebende Zeitzeugen nach den Schicksalen der ehemaligen jüdischen Mitbürger in GG und nach den Spuren im Weichbild Groß-Geraus zu befragen: zu den Menschen gehörten die Friedhöfe und Synagoge und Häuser dazu. Unsere Recherchen unterstützte nicht nur Menachem Kaufmann (Geinsheim – Jerusalem ) sondern vor allem das Ehepaar Goldberger. Er - der einzige Jude, der nach Groß-Gerau nach dem Verlust seiner Familie zurückgekehrt war. Sie - langjährige Betreuerin des jüdischen Friedhofs in GG im Auftrag der Stadt, auch Bezugsperson für jüdische überlebende Emigranten, wenn sie die Stadt und ihre jüdischen Stätten besuchten.

Erstes Ergebnis war unsere Publikation über die Juden in Groß-Gerau Ende der 80er Jahre, spät, gemessen am Abstand von 1938 oder 1945, erschienen aber zur rechten Zeit als stadtgeschichtliche Zusammenfassung dessen, was im GGer Archiv noch zu finden war, z. B. die Liste jener zu Nicht-Ariern deklarierten Groß-Gerauer, denen 1936 das Wahlrecht entzogen wurde und denen bald die Namen „Israel“ und „Sara“ zusätzlich aufgezwungen wurden.

Und wir blieben nicht allein: Angelika Schleindl, im Auftrag des Kreises, verbreiterte unsere z. T. nicht widerspruchsfreien mündlichen Quellen, insbesondere durch ihre Interviewreisen zu ausgewanderten Groß-Gerauer Juden in die USA; Spuren jüdischer Geschichte in Dornheim, Mörfelden-Walldorf, Rüsselsheim…wurden gesichert und publiziert, Inschriften der Grabsteine des Jüdischen Friedhof Groß-Geraus wurden von Benno Szklanovski 1981 entziffert. Und Hans-Georg Vorndran machte unsere Recherche unter „www.erinnerung. org“ im Internet zugänglich.

Dieser ersten Phase folgt jetzt nach dem Tode der meisten Zeitzeugen, die in der Zeit des NS bereits erwachsen waren, und nach der Öffnung von Materialien der Hessischen Staatsarchive in Darmstadt und Wiesbaden eine gründlichere aber auch perspektivisch erweiterte Recherche der Daten und Fakten. Seit die Dienstleistungen der Reichsbahn für die Deportation der Juden erforscht sind (80.000 potentielle Mitwisser) und seit der „legalisierte Raub“ jüdischen Vermögens durch die Finanzbehörden in vielen Fallstudien dokumentiert ist, ist der Blick dafür geschärft, dass es zigtausende „ihren Dienst tuende“ deutsche Mithandelnde und Mitwisser gegeben hat, die davon wissen mussten, was nachher niemand gewusst haben wollte. Nicht nur die auf Heimaturlaub durch die hintere Front reisenden Wehrmachtsangehörigen und auch nicht nur die Schreibtischtäter des „Dritten Reiches“ hatten dieses Wissen.

Da liegt es nahe, noch einmal auf die Opfer in ihrer Nah-, Um- und Mitwelt zu schauen, ohne die Forschung nach den Tätern, Zuschauern, Claqueuren, kleinen und größeren Bereicherern ins Zentrum zu stellen, die in Hitlers Volksstaat auch in Groß-Gerau auf die eine oder andere Weise profitierten.

Erst durch die Forschung in den letzten Jahren ist belegt worden und in eine breitere Öffentlichkeit gelangt, dass fast alle in der NS-Zeit lebenden Deutschen, die zur damaligen "Volksgemeinschaft" zählten, Vorteile aus der Ausplünderung jüdischer Menschen gezogen haben.

Die Ausplünderung und Beraubung der Juden in Deutschland erhielt durch verabschiedete Gesetze den Schein des Legalen. Vermögensabgabe, Reichsfluchtsteuer, Devisenabgabe, Sperrung der Konten und schließlich Entzug des Restvermögens bei Ausbürgerung wurden von den Finanzämtern akribisch durchgeführt. Das Unrecht gelangte aber auch unmittelbar in die Wohnungen von Hunderttausenden von Bürgerinnen und Bürgern. Sowohl von den Juden, die deportiert wurden, als auch von denen , die noch emigrieren konnten, wurden Hausrat und Besitz zugunsten der Finanzverwaltung öffentlich versteigert oder an Bombengeschädigte verteilt.

Welches Vorgehen führte uns zu welchen Rückschlüssen?

Einsehbar geworden sind die meisten Devisenakten, die Rückerstattungs- sowie die Entschädigungsakten derer, die entweder deportiert und in den Tod getrieben wurden oder die ihr Leben durch Emigration retten konnten. In Groß-Gerau wurde kein Verfolgter versteckt, wenn es auch im einen oder anderen Fall zu freundlicher „Übernahme“ und zu – auch finanziellen – Hilfeleistungen kam. Wir haben ca. vierzig Personen gefunden, die in Groß-Gerau gebürtig, die Verfolgung im „Dritten Reich“ nicht überlebt haben. Wir haben bisher ca. 200 Namen recherchiert, die zwischen 1933 und 1940 in Groß-Gerau gewohnt haben und angesichts eines hohen Vertreibungsdrucks diese Stadt nach Frankfurt, Wiesbaden, Darmstadt und Mainz verlassen haben. Und wir haben z.Z. 21 Häuser lokalisiert.

In Hessen setzten die amerikanischen Militärbehörden die einschlägige Verordnung durch, wonach verlorenes jüdisches Vermögen zwischen 1933 und 1941 an einer Zentralstelle in Bad Nauheim 1947 angemeldet werden konnten. Dabei ging es insbesondere um unter Zwang verkaufte Immobilien. In GG regelmäßig Hofreiten mit Grab und Grasgärten.

Im Zuge der einsetzenden Wiedergutmachungsgesetzgebung des Bundes und der Länder in den 50er Jahren sorgte dann z. B. das Amt für Vermögenskontrolle und Wiedergutmachung in Darmstadt für die Vermögenssperre gegen die „Ariseure“, d. h. diejenigen, die jüdische Unternehmen und Häuser gekauft oder übernommen hatten. Waren Überlebende oder Nacherben vorhanden, verfolgten sie ihr erst im Entstehen begriffenes Recht durch Bevollmächtige, hatte niemand überlebt oder war nicht nachweisbar, trat die Jewish Restitution Successor Orgnization (JRSO) als Interessenvertretung gegen das Reich oder das Land Hessen (als Rechtsnachfolger) auf, das Vermögen der nach Osten Deportierten oder Emigranten konfisziert hatte.

Im Einzelnen geht es außer um Grundbesitz um die systematisch erhobene Reichsfluchtsteuer, die Judenvermögensabgabe und die Devisenabgabe auf Sperrkonten. Im Regelfalle verglichen sich die ehemaligen jüdischen Eigentümer Anfang der fünfziger Jahre durch Gerichtsentscheid mit den Neu-Erwerbern gegen Zahlung einer Summe in DM, so dass die während des „Dritten Reiches“ hergestellten Besitzverhältnisse erhalten blieben. Die Rückerstattungsangelegenheiten spiegeln sich selbstverständlich auch in den Grundbucheinträgen des Grundbuchamtes im örtlichen Amtsgericht. Neben diesen eindeutigen Belegen, die aus der nationalsozialistischen antisemitischen Gesetzgebung zur Enteignung der Juden folgen, werden auch oft sich bis in die 60er Jahre hinziehende Wiedergutmachungsverfahren aufgedeckt. Darin werden oft schwer nachweisbare psychische und physische Beeinträchtigung durch Verfolgung, durch Nachteile im beruflichen Fortkommen, Erwerbseinbußen, Verluste aus Lebensversicherungen und Renten, Schäden an der Gesundheit etc. geltend gemacht.

Außer den seit 1933 passierenden Geschäftsauf- und übergaben an „Arier“ finden sich in vielen Rechtsquellen insbesondere auch Hinweise auf Boykott und Boykotthetze seit 1933 und Plünderungen, Brandschatzungen, Körperverletzungen rund um die „Reichspogromnacht“ vor 70 Jahren zu finden sind. Man vergesse nicht, dass dies „lediglich“ die herausragenden Aktionen sind, die von der Fülle all der anderen Diskriminierungen begleitet werden.

Werden diese Akten mit den inzwischen über das Internet verfügbaren Opferlisten in Beziehung gesetzt, so lassen sich Individuen der Anonymität großer Opferzahlen entreißen, und es werden personale Gemeinschaften nach Häusern und Verwandtschaftsgruppen sichtbar.

Das wollen wir für Groß-Gerau rekonstruieren und unter dem bestehenden Portal von „www.erinnerung.org“ zusätzlich dokumentieren. Auf einer Übersichtsseite sind zur Zeit 21 Häuser zu sehen, denen die jeweiligen jüdischen Bewohnerinnen und Bewohner zugeordnet sind. Es wird über das Schicksal der Betroffenen und soweit nachweisbar über deren Eigentumsverlust informiert. Für manche Häuser noch fehlende Informationen werden im Laufe der Zeit weiter ergänzt.

Die identifizierten ehemals jüdischen Wohn- und Geschäftshäusern betreffen die Jahnstraße, die Walter-Rathenau-Straße (ehem. Adolf-Hitler-Ring), Am Burggraben, die Darmstädter Straße, die Mittelstraße, die Frankfurter- und Mainzer Straße, die Schützenstraße, die Walburgastraße, die August-Bebel-Straße (ehem. Peter-Gemeinder-Straße). Sie sollen später zusammen mit anderen historischen jüdischen Stätten (Synagogen, Friedhöfe) für einen „alternativen Stadtrundgang“ auf einem Faltplan markiert und erklärt werden.

Ob - wie in anderen Gemeinden und Städten – „Stolpersteine“ noch eine andere Art des Erinnerns im Pflaster vor ehemaligen jüdischen Häusern ermöglichen, wie sie der Förderverein jüdische Geschichte und Kultur und das Evangelische Dekanat vorgeschlagen, bleibt dem politischen Gremien in GG überlassen.

Worum es geht, hat der jüdische Schriftsteller Erich Fried in „Vielleicht“ und einfühlend formuliert.

Erinnern
das ist vielleicht
die qualvollste Art
des Vergessens
und vielleicht
die freundlichste Art
der Linderung der Qual.

Erinnerungsarbeit mit dem Blick in die Zukunft baut Brücken und kann qualvoll sein, weil sie auch die Mühen der Vergangenheit anspricht.

Für die Recherchearbeit wurden u.a. die in der Linksammlung genannten Quellen verwendet.

gez. Jürgen Ziegler
gez. Hans-Georg Vorndran