Helwigstraße 25 (frühere Nr. 57)

Hier wohnte Alter im
Jahr 1933
Schicksal Bemerkungen
Ilse Markus,
31. 3. 1933
ein paar Monate   seit Herbst 1939 überlebt in Groß-Gerau
Erinnerungen von Ilse
Manfred Markus
geb. 20. 2. 1935
-   seit Herbst 1939 überlebt in Groß-Gerau
Erinnerungen von Manfred
Katharina Elisabeth Hill,
14. 1. 1909
24   nichtjüdische Mutter von Ilse und Manfred; als "politisch und rassisch Verfolgte" geführt, weil sie "mit einem Juden verheiratet" war

Nach seiner Rückkehr aus dem Krieg 1947 wohnte David Markus, der jüdische Vater von Ilse und Manfred, in diesem Haus in der Darmstädter Straße Ecke Gustav-Heinemann-Straße.

Recherchen ergaben folgende Informationen über die Menschen und die Häuser, in denen sie wohnten:

Das Schicksal des David „Israel“ Markus
aufgezeichnet von Jürgen Ziegler im Februar 2010

Die folgenden Informationen stammen aus einem Gespräch mit der Tochter von David Markus, Ilse (Jahrgang 1933), das im Februar 2010 stattfand. Bei diesem Gespräch überreichte sie einen Brief ihres Vaters aus dem Jahre 1946, aus dem weiter unten zitiert wird, und ein Foto aus den 1950er Jahren (siehe rechts). Die kursiven Texte sind wörtliche Zitate aus dem Gespräch bzw. aus dem Brief. Bei den Bemerkungen in eckigen Klammern handelt es sich um redaktionelle Erläuterungen.

Erinnerungen von Ilse Markus:

Ludwig Goldberger war nicht der einzige Deutsche jüdischen Glaubens, der nach dem Holocaust und dem Zweiten Weltkrieg zumindest zeitweise in Groß-Gerau lebte. Neben ihm gehörte auch David Markus dem VfR in Groß-Gerau an und beide spielten, wie sich alte Groß-Gerauer erinnern, als „David“ (kleiner Markus) und Goliath (großer Goldberger) Fußball in der Vereinsliga.

Wie alle Juden in Deutschland musste auch David Markus seit dem 1.1.1939 den zusätzlichen Zwangs-Vornamen „Israel“ tragen. Alle jüdischen Männer mussten auf offiziellen Papieren (z.B. auf Verträgen, Vollmachten, Ausweisen) ihrem eigenen Vornamen „Israel“ und alle jüdischen Frauen „Sara“ hinzufügen. In den Personalausweis wurde der Buchstabe J eingestempelt. Damit wurde erreicht, dass sie bei allen amtlichen, rechtlichen und geschäftlichen Unternehmungen sofort als Juden und damit als Menschen ohne Rechte zu erkennen waren.

Ilse, die Tochter von David „Israel“ Markus berichtet in einem Gespräch im Februar 2010 folgendes: David Markus wurde 1907 in Bad Mergentheim geboren. [Die Kopie aus dem Stammbuch der Familie weist als Geburtsort das ostpolnische Szczucin aus, wo er am 10.2. 1907 geboren wurde; das erklärt u. U. auch, warum Markus in Frankreich zusammen mit anderen Polen interniert wurde]. Der Vater Davids war Mendel Markus, geb. am 29. 8. 1864 in Szcucin, seine Mutter Bassa oder Bascha, geb. Günter, am 23. 4. 1869. Die Eltern heirateten 1906 in Edelfingen, Baden-Württemberg. Sie muss zur Geburt des Sohnes David nach Szcucin zurückgekehrt sein, wurde jedoch aus Edelfingen nach Treblinka deportiert und ist „für tot erklärt“ worden, wie es im Gedenkbuch des Bundesarchivs heißt.

2.v.l.: David Markus, rechts neben ihm seine Frau Katharina Elisabeth, beide leiteten später das Kahnsche Geschäft in Weiterstadt.

Am 24. 6. 1931 heiratete David Markus Katharina Elisabeth Hill, die evangelisch war und am 14. 1. 1909 in Darmstadt geboren wurde. Am 31. 3. 1933 wurden die Tochter Ilse und am 20. 2. 1935 ihr Bruder Manfred in Weiterstadt geboren Beide Eheleute Markus arbeiteten im Kaufhaus Kahn zuerst in Groß-Gerau, dann, nach der Gründung einer Filiale in Weiterstadt, dort. Es existieren Bilder von beiden vor dem Eingang des Kaufhauses.

Die Filiale des Textilgeschäfts in der Darmstädter Straße in Weiterstadt lief gut, bis auch sie von der SA boykottiert wurde. Schließlich wurde das Geschäft geschlossen. Familie Markus zog innerhalb Weiterstadts von der Darmstädter Straße in die Liebfrauenstraße um und von dort 1937 nach Frankfurt in die Lange Straße, weil sie keine Erwerbsmöglichkeit mehr hatte. Familie Markus wohnte also vor dem Zweiten Weltkrieg nicht in Groß-Gerau.

Dass David Markus zum jüdischen Friedhofsverband Groß-Gerau gehörte, bezeugt ein Foto, das ihn zusammen mit Moritz Goldberger und dessen Sohn Ludwig bei der Umbettung der Gebeine zeigt, die vom jüdischen Friedhof an der Helwigstraße auf den neben dem Freibad in Groß-Gerau gebracht wurden. Das Foto findet sich auch in A. Schleindl, Verschwundene Nachbarn, S. 371 unten, wo David Markus als zweiter von rechts mit hochgehaltenem Spatenstiel abgebildet ist. Das war 1936.

In Frankfurt, Lange Straße, war kein Verlass mehr auf die Unterstützung von Nachbarn und Freunden wie teilweise in Weiterstadt bis 1937. Markus musste sich regelmäßig bei der Polizei melden.

Nach der Pogromnacht 1938 wurde er nach Buchenwald verschleppt, wie es auch anderen seiner Glaubensgenossen erging. Damals war er 31 Jahr alt. Von dort freigelassen, kam er 1939 nach Frankfurt zurück, musste sich wiederum polizeilich melden und ist dann nach Holland emigriert, wohin auch die Familie nachkommen sollte. Dies gelang wegen fehlender Papiere jedoch nicht, was einen Nervenzusammenbruch der Mutter und ihren Klinikaufenthalt zur Folge hatte, der etwa ein viertel Jahr dauerte. Ein Wäschepaket der Mutter nach Holland blieb verschollen. Während der Abwesenheit beider Eltern wurden die Kinder im September / Oktober 1939 in ein Kinderheim eingewiesen, das vierzehn Tage später nach dem Beginn des Zweiten Weltkriegs aufgelöst wurde: Die meisten Kinder wurden nach Polen deportiert. Die sechsjährige Tochter Ilse und der vierjährige Sohn Manfred überlebten nur deshalb, weil ihr Opa Ferdinand Hill aus Groß-Gerau seine Enkelchen aus Frankfurt in sein Haus in der Helwigstraße 57 bringen konnte. „Er hat uns eingesammelt und das Tor zugeschlossen, so dass wir nicht heraus konnten. Während des gesamten Krieges waren wir völlig abgeschirmt. Bei uns war das Tor zugeschlossen. Eine Schwester meiner Mutter in Berlin erwirkte, dass wir durch das Ministerium Görings als ‚Mischlinge ersten Grades‘ eingestuft wurden.“

Die Mutter kehrte Anfang 1940 in ihr Elternhaus zu ihren beiden Kindern zurück. Ilse berichtet weiter, dass sie ihrer Schulpflicht erst 1942 nachkommen konnte und dann gleich in die dritte Klasse eingeschult wurde. Lesen und Schreiben in Sütterlin hat sie bei der Mutter gelernt; sie sei in der Schlosskirche in Darmstadt getauft worden.

„Der Garten der Großeltern Hill, Eisenbahnerfamilie in Groß-Gerau, in der Helwigstraße 57 ist mir intensiv in Erinnerung. Ich könnte ihn aus dem Gedächtnis malen, jedes Blümchen. Ich war in der Schillerschule, dann aber auch in der Schule an der Kirche“ [die 1944 nach einem Bombardement abgebrannt ist.] „Ich hatte auch sehr große Repressalien von Mitschülern und von Lehrern erfahren. Mein Schulweg während des Krieges führte über den Graben in die Helwigstraße. Ich besuchte dann auch die Realschule in Groß-Gerau und später die Gewerbeschule in Darmstadt.“

„In unserer Nachbarschaft wohnte ein Mitglied und Funktionsträger der NSDAP, im Volksmund der ‚Hut-Schäfer‘. Ich litt unter grausamen Kindern, durfte aber mit Irmgard Becker spielen, deren Eltern aus Mainz nach Groß-Gerau zugezogen waren und das „Weiße Ross“ in der Mainzer Straße bewirtschafteten. Das großelterliche Haus in der Helwigstraße ist durch Artilleriebeschuss zerstört worden. Wir haben unseren Kapok von den Matratzen aus den Trümmern geholt, damit wir was zu schlafen hatten, so meine Erinnerung an den März 1945. [Kapok ist eine Matratzenfüllung aus Frucht- und Samenfasern des Kapokbaumes.] Wir haben auch den Angriff auf Darmstadt erlebt. Wir fanden angebrannte Papiere aus Darmstadt auf dem Acker meines Großvaters am Grünen Weg, die nach dem Angriff aus dieser Stadt herübergeweht waren. Mein Vater ist von Holland nach Frankreich bis zu den Pyrenäen weitergeflüchtet, wo er bei Bauern als Feldarbeiter lebte. Wenn Soldaten kamen, wurde mein Vater in die Berge geschickt, um dort Löcher zu graben und Wein anzupflanzen.“

Markus war an der französisch-spanischen Grenze in einem Internierungslager St. Cyprien, von wo er in die Pyrenäen zu dem oben genannten Bauern flüchtete. Verwundet überlebte der Vater den Krieg. Ein Brief von 1946 und eine Fotografie aus den 50er Jahren zeugen aus dieser Zeit. Zwischen 1939 und 1946 war nichts vom Vater zu hören.

David Markus schreibt am 28. Juni 1946 aus St. Papoul , im Pyrenäendépartement Aude bzw. einem Flecken namens Verdun (in der Nähe von St. Papoul, Aude) ohne Punkt und Komma einen langen, langen großformatigen Brief an seine Familie in Groß-Gerau, der stilistisch sozusagen die Atemlosigkeit seiner Fluchtjahre 1939 bis 1945 bezeugt. Er lag dort in Verdun seit dem 23. April 1946 im Krankenhaus wegen einer Verletzung, über die er u. a. auch noch berichtet.

Wir paraphrasieren und zitieren ausführlich und weitgehend in Originalschreibweise aus diesem Brief. Er schreibt an seine Kinder Ilse und Manfred sehr herzlich väterlich, aber auch nicht ohne Ermahnungen wie: „Wenn möglich tretet aus der Kirch, aber es ist kein Zwang von mir.“ David antwortet auf Mitteilungen seiner Frau: „Hier bin ich auf meinen Papieren Pole, das habe ich vergessen zu schreiben, auch werde ich versuchen sofort abzureisen wenn ich einigermaßen gehen kann. Wenn ich die Grenze nicht überschreiten kann, werdet ihr von Brüssel, Straßburg oder von einer anderen Stadt näheres von mir hören. Nach Frankreich zu kommen, wäre bestimmt nicht schlecht. Hier gibt es alles.…“

Er berichtet seinen Kindern, dass die reichen Patrons der Ferme, für die er gearbeitet hat, ihm raten, seine Familie nach Frankreich zu holen, wenn er bereit ist, weiter für sie zu arbeiten nach seiner Gesundung. An Ilse: „Gebe mir Antwort, ist das möglich, wie die Lage bei Deiner Mutter ist.“ Augenscheinlich muss die dreizehnjährige Tochter wegen der Unstimmigkeiten zwischen den Eltern getröstet werden. Den Sohn Manfred muntert er mit künftigem gemeinsamen Fußballspiel und Schwimmen auf, aber auch mit dem Hinweis: „Herzlichen Dank für Dein Bildchen aber trotzdem werde ich Dir meinen Kamm leihen, um einen Scheitel zu machen….Sei fleißig in der Schule damit Du im Leben vorwärts kommen kannst.“

Der Brief ist vor allem als Bericht an die Kinder über das Flüchtlingschicksal des Vaters seit 1939 „von Brüssel bis heute“ zu lesen: „Am 10. Mai [1939] lies ich 1 Bettdecke einige Betttücher meine Wintersachen bei einer bekannten Familie trotzdem hatte ich einige Sachen bei mir und bin am 14. Mai geflohen vor den Bluthunden….ich bin von Brüssel nach Turnaj [das ist Tournai] an die Grenze dort traf ich natürlich alle Flüchtlinge verhaftet als Ausländer, in ein Wagon zu 40 Mann und ab nach Frankreich. Lille, Orléans war der erste halt auf einer Wiese bekamen wir nach 4 Tagen etwas zu essen, eine Wiese ohne Barragen, da bin ich mit 2 Kameraden weg nach Orléans Stadt in ein Hotel dort waren wir 3 Tage am 3ten Tag verhaftet auf die Wiese gebracht und bei Nacht eingeladen und bis nach (Port Ventré) ein Hafen an der grenze von Spanien.

[Port–Vendres liegt an der felsigen Küste des Mittelmeeres vor den Toren von Spanien und hat einen natürlichen Hafen im tiefen Wasser. St. Cyprien Plage liegt direkt am Mittelmeer. Am Strand von Saint-Cyprien wurde von 1939 bis 1940 ein Internierungslager betrieben, das offiziell Camp de Concentration de Saint-Cyprien (Konzentrationslager Saint-Cyprien) hieß. Fast 90.000 Personen wurden dort von den mit den großen Flüchtlingswellen überforderten französischen Behörden festgehalten. 1939 waren dies mehrheitlich Internationalisten, die nach dem Sieg Francos im Spanischen Bürgerkrieg aus dem benachbarten Spanien flohen. Oft mussten die Opfer auf dem blanken Erdboden schlafen, erst nach und nach wurden einfache Baracken errichtet, die allerdings chronisch überfüllt waren. Viele der Internierten wurden später ins Camp von Gurs oder ins Sammellager Drancy gebracht, und schließlich ins Konzentrationslager Auschwitz verschleppt, wo die überwiegende Mehrheit von ihnen umgebracht wurde. Das Lager in Saint-Cyprien wurde aufrechterhalten. In den Monaten Mai und Juni 1940 füllte es sich erneut, diesmal mit Deutschen und Flüchtlingen anderer Nationen, mehrheitlich jüdischer Abstammung. Nun kamen die Internierten aus Belgien, das von der Deutschen Wehrmacht überrollt wurde. Sie waren von der belgischen Verwaltung festgenommen und nach Frankreich getrieben worden, wo sie von den französischen Behörden übernommen wurden und nach achtzehn Tagen Saint-Cyprien erreichten. Dort wurde ihr Besitz beschlagnahmt und inventarisiert. Im Archiv des Departements Pyrénées-Orientales wird ein eindrückliches Zeitdokument aufbewahrt: die „Listen von Saint-Cyprien“ (152 Seiten). Dieses Schriftstück wurde zwischen dem 4. und dem 7. Oktober 1940 durch den Lagerkommendanten Lieutenant Colonel Leclerc für den Präfekten in Perpignan erstellt. Das Inventar erlaubt es noch heute, abzuschätzen, wie viele Wertsachen den Flüchtlingen geraubt wurden.]

In der Nähe ist Camp St. Ciprizen, was dort war ist mit Worten nicht zu erzählen, das Lager ist auf dem Meeresstrand 20 m vom Meer vor Hitze sind die Menschen gestorben wie die Fliegen oder wie in Buchenwald bei den Bluthunden, ich habe natürlich mich um nichts gekümmert bin meinen Gedanken nachgehangen und war sehr vorsichtig mit dem Essen und habe kein Wasser getrunken und trotztem erwischte mich Malaria Fieber ich habe eines Tages mit einer Frau vom Französischen Roten Kreuz gesprochen, ich habe mich gut angezogen, rasiert und bin auf das Büro wo sie war, natürlich sprach ich keine 10 Worte Französisch. Sie gab mir 15 Fr = 1 Mark und versprach mir in 1 Monat wiederzukommen, aber da wurde ich mit allen Polen in ein anderes Lager gebracht (Argelles sur Meer).

Als ich Malaria hatte glaubte ich zu sterben ich wollte Nachricht geben und da habe ich an das Rote Kreuz in Genf geschrieben…..in diesem Lager (Argeilles) traf ich wieder die Dame vom Deutschen Roten Kreuz dieses mal sprach ich allein mit ihr, nie im leben habe ich mit einer schöneren Frau gesprochen, sie gab mir 400 Fr und eine Adresse, die Adresse war von ihrer Mutter in dem Ort wo ihr hinschreibt (mein Geld wurde mir auf der Flucht abgenommen habe aber Adresse und hoffe noch einige Sachen zu erhalten).

[Bei „Argelles sur Meer“ handelt es sich um Argelès-sur-Mer (katalanisch: Argelers de la Merenda oder einfach Argelers), eine Stadt im Département Pyrénées-Orientales in der Region Languedoc-Roussillon im Süden Frankreichs an der spanischen Grenze. Die nächste Großstadt ist Perpignan. Gegen Ende des Spanischen Bürgerkriegs erreichte die Stadt eine zweifelhafte Bekanntheit, weil die französische Regierung 1939 dort (wie in anderen Küstenstädten des Roussillon, u. a. Agde und Saint-Cyprien (Pyrénées-Orientales) für mehrere zehntausend Flüchtlinge und ehemalige Interbrigadisten am Strand von Argelès ein Internierungslager (französisch: Camp de Concentration - „Konzentrationslager“) errichtete. Zum Gedenken an die Leiden der dort Festgehaltenen wurde nach dem Zweiten Weltkrieg ein Mahnmal errichtet. vgl. Wikipedia

Was machen, Flüchten, es war Mai 41. Ich hatte Angst, vor dem Lager waren oft Deutsche Uniformen zu sehen, ganz weiß gekleidet, aber im Lager selbst war Ruhe, nur Franzosen haben uns bewacht, natürlich war es doch schrecklich denn von 960 Polen waren 300 tot, wie oft habe ich die Toten geschleppt und mit den Händen im Land verschart, bis am 11. Juli 1941 habe ich dort ausgehalten, dann wurde ich auf mein langes Bitten in ein Arbeitslager gebracht mit einigen Bekannten dort war ich ca. 12 Tage und da ging es aufs neue mit den Bluthunden los, eines abends waren einige Baraken eingezingelt von Französischen Gendarmen und morgen kommt eine Deutsche Komision wer freiwilllig nach Deutschland will arbeiten, das war für mich Alarm, jetzt oder nie, und da bin ich weg das war leicht, denn als Arbeiter war ich nicht im Camp, sondern direckt ausserhalb. Jetzt zu Fuß nach Perpignan ca. 38 km, in Perpignon stieß ich gleich auf einen Gendarm aber ich erzählte ihm, wo ich herkomme und er ging mit mir auf den Bahnhof und suchte Verdun [in den Pyrenäen!], das war nicht zu finden, ein Ort mit 85 Einwohner und 32 Fermen - zusammen 385 Einwohner - da hatte ich mich zuerst gut zu verstecken 16 km von einem Bahnhof nur Autobus, aber nachdem 1942 die Bluthunde die freie Zone besetzten, ging für mich ein Hetzen Verstecken usw. an. 2 km höher wo ich arbeite ist Wald, da hat sich die Maguy versteckt.

[Mit „Maguy“ ist wahrscheinlich Maquis gemeint, Partisanen der frz. Résistance, die sich im Zweiten Weltkrieg in Wäldern und Bergen und anderen wenig bevölkerten Gebieten versteckten. Von dort aus bekämpften sie als erste die deutschen Besatzungstruppen in Frankreich. Der Maquis nahm seinen Anfang, als Franzosen im Rahmen des Service du Travail obligatoire (STO) für den Arbeitsdienst in Deutschland verpflichtet werden sollten. Wer sich seiner Dienstpflicht entziehen wollte, „verschwand in die Natur“ und begann den Widerstand gegen die Besatzer. Später war der Maquis eine von mehreren Gruppen der Résistance. Der Maquis spielte dabei eine wichtige Rolle bei der Befreiung Frankreichs.]

Wie die Tochter Ilse berichtet, arbeitete ihr Vater David auf einer französischen Farm in den Pyrenäen, wo er in den Bergen Löcher grub, um Weinstöcke anzupflanzen.

Da war ein Bruder von meiner Herrin und ich zuhause, aber ich arbeitete so verging die Zeit , vertraute Bauern kauften mir Deutsche Zeitungen, sie waren hier zu haben wie die Französischen, abend oder Nachts bin ich auf eine andere Ferm ca. 600 m weg da hörte ich Radio (wo ist mein Radio) Zeitung hatten wir jeden Tag sogar wenn ich Nachts im Wald war, hörte ich mit einem Englischen Aparrat welche die Engländer 1943 mit Fallschirm abgeworfen hatten, im Wald haben sie besser gegessen wie auf der Farm (alles von den Engländern abgeworfen) bis die Deutschen Bluthunde kamen und anfangen suchen natürliche war ich einer der ersten welcher in die Hände lief, eines Nachts als ich vom Wald heraus auf der Straße ging waren plötzlich 2 Kerle vor mir natürlich was machen, hier gibt es eine Sprache (batua) es ist kein Dialekt sondern eine Sprache wie Flamang (Belgisch) [das ist Flämisch; „EuskeraBatua“auchBatua ist eine baskische Sprache].

Ich sprach ein wenig und ich sagte als erster: Ihr macht mir angst und ging meines Weges ca. 300 mtr und auf einem anderen Weg zurück um meine Kameraden zu warnen, so war es bis zum 5. auf 6. Juni 44 dem Tag der Landung der alliierten in der Normandie, in der Nacht warfen die Engländer in allen Gegenden wo Maguy waren Gewehre Munition und Lebensmittel dann andere Flugzeuge brachten Fallschirmabspringer bei uns in der Nähe und der Pilot sprach auch und ließ sein Flugzeug stürzen, natürlich waren die Bluthunde wie die Ameisen, es war morgens 3 Uhr da hörte ich ein Auto (ich war auf dem Weg in den Wald) hinter mir, wir waren zu 3 Männer, ich hatte bei mir 12 Handgranaten und ein kleines englisches Maschinenengewehr, meine 2 Kameraden noch mehr Granaten, ein Kamerad bleib im Straßengraben der andere und ich sind auf den einzigen Baum eine kurze Eiche welche in der Nähe war; wir hätten das Auto ein Deutscher kleiner Lastwagen vorbeifahren lassen können, aber die Gelegenheit war da und wir haben zu dreien alle unsere Handgranaten innerhalb Sekunden abgeworfen, die Bluthunde, 18 SS und 4 Cicvil gaben nicht ein Schuß trotztem die SS auf dem offenen Lastwagen saßen und die Gewehre zwischen den Knien jetzt weiß ich nicht mein Kamerad oder ich warfen die letzte Granate zu spät ab, ich bekam ein bischen zu ziehen 2 kleine Splitter im Knie links einen schönen Brocken im linken Arm in der Nähe vom Ellenbogen und ein winziges Eckchen hebe ich zum Andenken auf, es ist auf der Stirn ein bischen links direkt unter den Haaren. Als die Bluthunden kleingemacht waren habe ich noch nicht eine Minute gewartet bin ganz allein noch in den Wald und habe mich versteckt – war 2 Tage und 2 Nächte im Wald gelegen. Flugzeuge haben die kleinen Wälder überflogen, mit dem Messer habe ich mir den Splitter aus dem Arm gezogen, das Knie hat mir am 3ten Tag sehr wehgetan und ich bin auf eine Ferm in der Nähe dort habe ich gehört die anderen Bluthunde haben alle abgeholt, haben sich überhaupt nicht aufgehalten, sie wollten an den Platz wo der englische Flieger abgestürzt ist, ich bin nach Hause und habe gearbeitet bis zum 23. April 1946 und wenn ich nicht gefallen wäre wäre ich bis zum Lebensende mit den Splittern herumgelaufen.

[Hier folgt eine teils schwer zu entziffernde Passage über einen Sturz einen kleinen Abhang hinunter, die anschließende Knie-Operation in einem Krankenhaus und den Erhalt des ersten Briefes aus Groß-Gerau].

Natürlich zum Ende als die Engländer und Amerikaner vorückten war es wie ein Hasenschiesen. Als ich frei war, habe ich angefangen zu schreiben auf allen Stellen und keine Antwort von euch erhalten, stellt euch vor wie mir zu Mut war kein Mensch auf der Welt welcher nur an mich denkt. Und so bin ich hier auf der Farm geblieben mit Arbeiten vergnüge ich mich 14-15 Stunden am Tag, zu Essen habe ich soviel wie Arbeit. Zum Anziehen habe ich alles. Etwas habe ich vergessen in Verdun habe ich eine zweite Mutter gefunden der Dame vom Roten Kreutz ihre Mutter, eine Gräfin sie hat mich in ihrem kleinen Schloß versteckt, hat mir einen Arbeitsplatz besorgt, mir Hosen Hemden Schuhe zum arbeiten gegeben ist zum Bürgermeister gegangen um mit ihm zu sprechen wegen meinen Papieren und gab mir eines Tages ein Bescheinigung das meine Papiere [im Kreisamt liegen zum Erneuern] Jetzt nach dem Kriege ist sie bei ihrer Tochter in Paris, und ich war auf Weihnachten 4 Tage bei ihr und ihrer Tochter. Ihre Tochter ist auch Gräfin und ihr Mann ist Admiral bei der Marine er war in der Truppe (de Gaulle der Französische Befreier) und wohl bald 3 Jahre vermist. Habe die Reise von Toulouse bis Paris mit dem Flugzeug gemacht hin und zurück mit zwei innigen Freunden. Ich bin im Glauben für heute genug geschrieben zu haben. ….Habe keinen Platz mehr zum Küssen. Seit mir herzlich gegrüßt. Euer Papa David Markus.

Er kam 1947 nicht in die Helwigstraße zum Großvater mütterlicherseits zurück, wo die Kinder mit der Mutter bei deren Eltern wohnten, sondern in ein Eckhaus in der Darmstädter Straße/Ecke Rheinstraße [dies ist die heutige Gustav-Heinemann-Straße] und es war für alle sehr schwer, sich nach so langer Zeit an einen Vater zu gewöhnen, der „sagt, wo es lang geht.“

Der Vater untersagte z. B., dass die Tochter und ihr Bruder konfirmiert wurden. „Ich hab´es ihm auch übel genommen. Das war so ein Drang, ich bin wieder da, Ihr macht, was ich will.“

Die Tochter von Markus hat ihren Mann 1952 kennengelernt und ihre Eheschließung fällt zeitlich ungefähr mit der Scheidung der Eltern Markus zusammen. David Markus starb 1967 in einem der Moorlöcher in Büttelborn nach Herzversagen und wurde auf dem jüdischen Friedhof in Darmstadt beerdigt.

An Ereignisse aus dem jüdischen Gemeindeleben erinnert sich die Tochter nicht, auch nicht an die jüdische Synagoge, außer an ein Erlebnis mit einem Angehörigen der Familie Kahn, der ihr zur Geburt einen silbernen Löffel schenkte, sie aber links liegen ließ, als er erfuhr, dass sie getauft worden war.

Nach dem Krieg hat die Familie Markus Ecke Darmstädter Straße/Rheinstraße gewohnt, wo im ersten Stock Kurzwaren verkauft wurden. Das großelterliche Haus in der damaligen Helwigstraße 57, das in der geraden Verlängerung des Grünen Wegs lag, war durch alliierten Luftangriff stark zerstört worden. Man zog zwischenzeitlich in die Walburgastraße 1 und dann in das Eckhaus mit einem Erker in der Darmstädter Straße Ecke Rheinstraße, heute Gustav-Heinemann-Str. (schräg gegenüber der Seilerei Wettlaufer), lange bevor die Mutter Katharina zusammen mit dem Sohn Manfred ihre Bleibe in der Mittelstraße bauten. Als Zeitzeugin aus dieser Zeit beruft sich die Tochter auf die „judenfreundliche“ Marie Beißwenger aus der Ludwigstraße 2 in Büttelborn.

Die Mutter Katharina, die vier Geschwister hatte, hat dann nach der Scheidung zusammen mit dem Großvater Hill ein Haus in der Mittelstraße gebaut, das heute der Bruder und dessen Sohn bewohnen

Erinnerungen von Manfred Markus:

Am 15. 9. 2012 beschreibt Manfred Markus rückblickend im Alter von 77 Jahren seine Kindheit und Jugend wie folgt und ergänzt so die Ausführungen seiner Schwester Ilse über das Schicksal seiner Familie vor und nach 1945.

Ich bin Manfred Markus, und ich erzähle meine Geschichte, die im „Dritten Reich“ am 20. 2. 1935 in Weiterstadt, wo ich wie meine zwei Jahre ältere Schwester Ilse geboren bin, beginnt.

Meine Eltern waren Katharina Hill und David Markus. Mein Vater kam aus Edelfingen nach Gross-Gerau. Geboren war er 1907 in Sczucin, Kreis Jarnow Ostpolen a. d. Weichsel. Er heiratete 1931 meine Mutter Katharina Elisabeth Hill. Vermittelt durch Frau Oeder, Optikergeschäft in der Darmstädter Straße, konnte mein Vater im Kaufhaus Kahn in Gross-Gerau eine Lehrstelle finden und sich zum Textilhandelskaufmann ausbilden lassen; dort hat auch meine Mutter als Kontoristin gearbeitet und meinen Vater kennengelernt.

Mein Vater war vor dem Krieg bei der SPD. Wenn sie marschiert sind, dann wollte ein Verwandter ihn aus der Gruppe herausholen. Auf dem Familienbild zur silbernen Hochzeit meiner Großeltern, sind dieser Verwandte und seine Frau, nicht zu sehen, weil „Er“ sich nicht mit einem Juden zusammen fotografieren lassen wollte. Es ist derselbe, der meinen Vater aus dem SPD-Aufmarsch herausholen wollte. So verfeindet waren die Familien.

Noch nach 1947 wurde mein Vater, der in Vorkriegszeiten oft zusammen mit L. Goldberger auf dem Fußballplatz in Groß-Gerau spielte, als „Judd“ angepöbelt und ausgegrenzt. 

Ich war zusammen mit meinem Vater als Zuschauer dabei, als er über das ganze Spielfeld schrie: "Deck doch Dein Mann"!, "Greif doch an!" u. ä. und ich, etwas abseits stehend, hören musste, wie andere Zuschauer sagten: "Wenn doch nur der dreckige Jud sein Maul halten würde." Das hat mich sehr gekränkt. Ich konnte das aber meinem Vater nicht sagen.

Vater und Mutter leiteten später nach ihrer Hochzeit eine Filiale dieses Gross-Gerauer Kaufhauses Kahn in Weiterstadt und da stand bald nach der „Machtergreifung“ die SA davor und hat niemand mehr hereingelassen, und sie waren als Juden erkannt und sind daraufhin nach Frankfurt gezogen in die Hans-Handwerkstraße um in der Großstadt unauffälliger leben zu können.

Mein Vater dürfte in der Nazizeit seinen Beruf bald nicht mehr ausüben und arbeitete auf dem Jüdischen Friedhof in Frankfurt. Aber auch in Frankfurt wurde er erfasst, und er musste Deutschland über Nacht verlassen, nachdem er ein Jahr lang 1938-1939 im KZ Buchenwald war und es meiner Mutter „als Arierin“ durch Gesuche gelang, ihn wieder heraus zu holen.

Er floh nach Belgien und, als dort die deutsche Wehrmacht eimarschierte, wurde er auf einer Mittelmeerinsel interniert. Von dort ist er in die französischen Pyrenäen geflohen und arbeitete bei einem Bauern als Knecht. Die deutschen Patrouillen wurden schon von ferne ausgemacht, und die Widerstandskämpfer zogen sich dann in unwegsame Waldgebiete zurück. Wie er später erzählte, kam es auch zu Kämpfen, bei denen er sich eine Granatwunde am Knie zuzog. Nach der Befreiung von Paris und nach dem Krieg arbeitete er zunächst in einer Großküche als Koch.

In der Pogromnacht 1938 war meines Wissens unser Vater schon im Ausland. Und unsere Mutter hat an der Wohnungstür in Frankfurt gestanden und hat gerufen „Ich bin Christin!“ Und da ist die SA weiter und hat unsere Wohnung nicht demoliert.

Vier Jahre nach meiner Geburt, 1939 noch in Frankfurt am Main, wo wir gewohnt haben, hat meine Mutter auf der Straße einen Nervenzusammenbruch erlitten, und, so weit ich mich daran erinnern kann, - wir waren allein zu Hause; unten im Haus in einem Geschäft haben sich Angestellte, um uns gekümmert, weil unsere Mutter nicht mehr heim gekommen ist. Dann später wurden wir, meine Schwester und ich, von zwei Polizeibeamten abgeholt mit dem Fahrrad und wurden in ein Kinderheim gebracht. Die Beamten mit ihrem Helm auf dem Kopf waren sehr fürsorglich und nett und hatten unterwegs noch halt gemacht, um uns etwas zu essen zu kaufen. Trotzdem hatte ich Angst, da mir, auf der Fahrrad-Querstange zwischen Polizist und Lenker sitzend, schwindelig war. Damals wohnten wir in Frankfurt in der Hans-Handwerk-Straße, die später Lange Straße hieß.                                                                                                            

Dann sind wir in ein Kinderheim mit vielen Kindern gekommen und ich kann mich nicht mehr entsinnen, wie lange wir dort waren; die jüdischen Kinder aus dem Kinderheim sollen zu einem Transport nach Auschwitz zusammen gestellt worden sein. Auf jeden Fall hat die Tante Gretel, die jüngste von drei Schwestern meiner Mutter, die in Frankfurt gearbeitet hat, erfahren, dass unsere Mutter zusammengebrochen war, und hat unseren Großvater Ferdinand Hill in Gross-Gerau verständigt; der hat uns aus dem Kinderheim herausgeholt und hat uns heimgeholt nach Gross-Gerau in sein Haus in der Helwigstraße.

Unser Nachbar in der Helwigstraße war Feldschütz und ein großer Nazi hat sich später freiwillig zur SS gemeldet. Er hat grauenhafte Geschichten aus dem KZ erzählt.

Meine Oma und Opa hatten immer ein Schwein im Stall, und auch Hühner waren da. Nach der Schlachtung musste immer ein halbes Schwein an den Staat abgegeben werden. Zuvor war das Schlachtvieh auf dem Stadthaus in der Frankfurter Straße gewogen worden. Ich möchte noch eine Anekdote über meinen Großvater erzählen. Je schwerer das Schwein war, desto mehr an Gewicht konnten demnach auch meine Großeltern behalten. Natürlich war ein schwereres Schwein vorwiegend fetter. Das war aber im Krieg, wo es nicht genug zu essen gab, durchaus willkommen. Meinen Großeltern gelang es in einem Jahr einmal ein Schwein mit 5 1/2 Zentner (275 kg) auf die Waage zu bringen. Darauf war mein Großvater so stolz, dass er das noch jahrelang erzählte. Natürlich hat man später, nach dem Krieg, als wieder mehr Wert auf die Fleischqualität gelegt wurde, Schweine bis zu einem durchschnittlichen Schlachtgewicht von ca.120 kg gezüchtet, dass sie nicht zu fett wurden.

Mein Opa hatte einen 1 Morgen großen Acker, der am Mühlbachufer lag, wo heute das Anne-Frank-Heim und der Kindergarten ist. Die Befruchtung wurde jährlich gewechselt -auf der einen Seite z. B. Gerste, auf der anderen Kartoffeln .

Meine Mutter musste sich während des Krieges infolge der Rassegesetzgebung scheiden lassen, um das Leben ihrer Kinder zu retten. So kam es, dass mein Vater, von dem ich von 1939 bis 1947 nichts gehört hatte, seine Frau ein zweites Mal heiratete, als er 1947 wieder nach Gross-Gerau zurückkehrte.

Als Gross-Gerau in Flammen stand, im August 1944, sind wir aus dem Luftschutzkeller gekommen und sahen die Turmhaube der Kirche brennend zusammen fallen. Da haben wir alle auf der Straße geweint, auch die Nachbarn, als wir draußen standen und das sahen...

Beim Großvater in der Helwigstraße, wo wir jetzt lebten, ist im März 1945 eine Artillerie-Granate eingeschlagen . Unsere Wohnung war unbewohnbar,  und uns wurde eine Wohnung in der Walburgastraße 1 zur Verfügung gestellt. In dieser Villa hatte die Deutsche Arbeitsfront der NSDAP ihren regionalen Sitz, dann die KPD ihr Büro und später das Gesundheitsamt. Als die Amerikaner nach Groß-Gerau kamen, waren wir erleichtert.

Die Helwigstraße stößt direkt auf den Friedhof in der Klein-Gerauer-Straße. Kurz, nachdem die Amerikaner bei uns einmarschierten, sah ich Männer in schwarzen Uniformen mit den weiß aufgemalten Buchstaben „PW“  auf dem Rücken, wie sie - vermutlich kriegsgefangene Soldaten auf Karren zum Friedhof vor sich her drückten, wie Weißbinder sie damals hatten. Darauf lagen gefallene Soldaten, die Toten der letzten Schlacht um Groß-Gerau.

Dorthin, in die Walburgastraße also, kam mein Vater 1947 zurück und lebte eine Zeit lang bei uns. Meine Eltern zogen dann in die Darmstädter Straße und gründeten ein Textilgeschäft. Das Geschäft hatten sie bei Schaffners in der Darmstädter Straße/ Ecke Rheinstraße. Das florierte bis zur Währungsreform. Danach gingen die Geschäfte konkurrenzbedingt schlecht.

Als politisch Verfolgter hatte mein Vater gute Verbindungen zu Geschäftspartnern und Großhändlern. Er konnte vor der Währungsreform viele Waren für sein Textil- und Kurzwaren-Geschäft einkaufen und sie gleich wieder verkaufen. Die anderen Geschäftsleute haben ihre Waren, die sie vor der Währungsreform erwarben, bis nach der Währung zurück gehalten, um dann DM für Ihre Waren zu erhalten. Meine Eltern hatten z.B. einen großen Stoß mit Gummiplatten, die für die Schuhreparatur eingesetzt wurden. Sie haben damit gute Geschäfte gemacht.


Foto und Stempel im Kinderausweis von dem 6-Jährigen Manfred Markus
aus dem Jahr 1941
 
Manfred als Schüler 1948

Während des Krieges waren meine Schwester Ilse mit 9 Jahren und ich mit 7 in Darmstadt evangelisch getauft worden. Die Taufe war die Voraussetzung, dass wir beide in die Schule aufgenommen werden konnten. Mutter war mit unseren Passbildern in Berlin im Reichsministerium des Innern noch unter W. Frick oder schon unter H. Himmler 1943, um  durch Gesuch zu erwirken, dass wir als „Arier“ eingestuft wurden. Es wurde aber nur bestätigt, dass Ilse und ich als "Halbjuden" anzusehen seien. Danach durften wir beide in die Schule gehen. Ilse besuchte gleich die 3.Klasse, meiner Erinnerung nach 1/4 Jahr vor der Versetzung in die nächste Klasse und hat die Versetzung geschafft.

Ich bin zur selben Zeit wie Ilse in die 1.Klasse der Kirch-Schule gekommen und habe, weil ich kaum Kenntnisse von lesen und schreiben hatte, die Versetzung in die 2.Klasse nicht geschafft.

Mein Vater war ja jüdischen Glaubens. Später, als Ilse konfirmiert werden sollte, hat mein Vater nach seiner Rückkehr aus Südfrankreich, sie und mich aus der Kirche herausgenommen und uns bei der jüdischen Gemeinde in Darmstadt angemeldet. Als Erwachsene sind wir inzwischen wieder in die evangelische Kirche eingetreten.

Von meinem Vater habe ich jiddische Ausdrücke gelernt: Der Schlemihl war ein Stromer. Massel bedeutet Glück. Schlamassel bedeutet Unglück.

Meine Mutter nannte meinen Vater Theo und nicht David, wie er eigentlich hieß. Alle nannten ihn so. Ich wurde auch beschnitten und fühle mich sehr gut so.

Ich besuchte die Schillerschule in Groß-Gerau bis 1950; im gleichen Jahr begann ich eine Lehre als Dreher bei der Fa. Opel in Rüsselsheim, wo ich 1953 ausgelernt hatte und dann auch als Fräser arbeitete. Dann bin ich ein Jahr in die Produktion versetzt worden. Ich habe meinen Meister gefragt, ob ich wieder zurück kommen kann. Nach einer Zeit an der Horizontalfräse, dann drei Jahre im Querschiff am Ende des H-32-Gebäudes, gegenüber des K40 an den „Kellermaschinen“ (Kopierfräsmaschine) gearbeitet. Insgesamt war ich, einschließlich der Lehrzeit, 35 Jahre bei Opel beschäftigt.

1953, das war auch der Zeitpunkt, bis zu dem mein Vater und meine Mutter zusammen das Textilgeschäft in der Darmstädter Straße von 1947 an betrieben.

Dann ging mein Vater weg und ließ sich scheiden. Er heiratete eine jüngere Frau und zog nach Braunshardt.

Manfred mit Schwester Ilse 1953

 

 

Links: Manfred Markus am Grab seines Vaters David Markus auf dem jüdischen Friedhof in Darmstadt. Warum auf dem Grabstein der Zwangsvornahme "Israel" steht, weiß Manfred Markus nicht. Er nimmt an, dass die zweite Frau seines Vatesrs davon als selbstverständlich ausging und nichts anders wusste.

Meine Schwester Ilse hat 1953 geheiratet und ist nach Weiterstadt gezogen. Ich heiratete 1959, blieb aber am Ort mit meiner Mutter zusammen; ich war ihr Sonny Boy, und wir bauten 1959 unser Haus auf einem Grundstück, das uns mein Großvater Ferdinand Hill in der Mittelstraße 48 gekauft hat. Darauf haben meine Mutter und ich ein Zweifamilien-Haus mit öffentlichen Mitteln gebaut. Dort lebe ich bis heute.

Über die vielen psychischen und auch körperlichen Verletzungen, die mir in meiner Kindheit und Jugend als Sohn eines jüdischen Vaters und einer evangelischen Mutter angetan wurden, kann und möchte ich nichts berichten, da ich selbst in der Erinnerung daran sehr leide.

Die Enkel von Julius und Frieda Kahn begegnen dem Sohn von David Markus anlässlich der Stolpersteinverlegung am 16.11.2012. V.l.n.r.: Jay Kahn, Gary Kahn, Manfred Markus.

Unten die Kette mit jüdischen Symbolen, die David Markus nach Aussage seines Sohnes Manfred an seinem Hosengürtel getragen hatte.


Die Liste von St. Cyprien: Die Odyssee mehrerer tausend Juden, die am 10. Mai 1940  durch die belgische Administration in Richtung der Internierungnslager in Südfrankreich vertrieben wurden - Vorzimmer der Vernichtungslager (so auch der frz. Buchtitel von Macrel Bervoets-Tragholz, Brüssel 2006 ( enthalten sind die Namen von 4419 Juden, davon 3219 aus den Originallisten von St. Cyprien übernommen mit 1200 Namen aus dem Archiv von Pau (= Gurs). Einer von ihnen: David Markus

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Quelle: 40 Jahre Nachkriegs-SPD 1945-1985; Festschrift des Ortsvereins Groß-Gerau. Die Anmerkung zu unten stehenden "Liste der in GG politisch verfolgten Personen" lautet : Liste d. Verfolgten des Naziregeims  GG  3.  April  1946; Bgmeisterei GG:

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