Die scheinbare Integration des jüdischen Unternehmers Heinrich Hirsch in Groß-Gerau

Eine Augenzeugin (Anna G.) berichtet über den 1. April 1933:
"Man warf nachts verschiedenen jüdischen Geschäftsleuten die Fensterscheiben ein, ja man scheute sich nicht und drang nachts in das Schlafzimmer des Ersten Vorsitzenden des Verkehrsvereins, des um diese Stadt so verdienstvollen Mannes, Heinrich Hirsch ein, und schlug ihn und seine Gattin gottserbärmlich zusammen."
 
Und die vielen Jahre davor?
 

Bildungsgang und wirtschaftliche und politische Aktivitäten des Heinrich Hirsch:

Höhere Bürgerschule Groß-Gerau;
Philanthropinum Frankfurt a. M.;
Realschule Darmstadt;
praktische Erlernung der Destillation und Essigfabrikation;
1884 Eintritt in das väterliche Geschäft (gegründet vom Großvater 1866);
1896 Mitinhaber;
Mitglied des Gewerbeausschusses beim Reichsmonopolamt für Branntwein;
Vorsitzender der Vereinigung Deutscher Edelbranntweinbrennereien, Mannheim;
Vorsitzender der Vereinigung Deutscher Weinbrennereien, Berlin;
Seit 1910 Mitglied des Gemeinderats Groß-Gerau;
Vorsitzender des Demokratischen Vereins Groß-Gerau;
1902 Wahl in die hessische Industrie- und Handelskammer Darmstadt; später Vorstandsmitglied (1933 entlassen);
1927 Vorstand des Verkehrsvereins für Groß-Gerau und Umgebung
1922 – 1933 im Aufsichtsrat der Groß-Gerauer Volksbank; davon seit 1924 Aufsichtsratsvorsitzender (1933 niedergelegt);
Vorstandsmitglied der jüdischen Religionsgemeinde;
Träger der Goethe-Plakette;
Mitglied im Gesangverein;

 
Lobender Artikel aus dem Groß-Gerauer Kreisblatt vom 7. 1. 1928:

25 Jahre Handelskammermitglied.
Fabrikant Heinrich Hirsch, Groß-Gerau, vertritt seit 25 Jahren die Interessen von Handel und Industrie der Heimat bei der Handelkammer Darmstadt.
Ein nicht häfiges Jubiläum

(...) Als gewissenhafte Chronisten müssen wir hier feststellen - und wir tun es gern - daß Heinrich Hirsch während dieses Vierteljahrhunderts, während eines halben Menschenalters, stets in ganz besonders rühriger Weise die ihm anvertrauten Interessen des Handels und der Wirtschaft des Kreises Groß-Gerau zu vertreten gewusst hat.

(...) An die Sitzung schloss sich eine akademische Feier der Mitglieder der Handelskammer im "Hotel zur Traube" in Darmstadt an. Hier wurde Heinrich Hirsch eine Ehrenurkunde überreicht. (...) Der Inhalt der Urkunde ist folgender:

Ehrenurkunde
Als ein Zeichen des Dankes und der Anerkennung für treue Mitarbeit in der Hessischen Industrie- und Handelskammer Darmstadt wird Herrn Fabrikanten Heinrich Hirsch, Groß-Gerau, diese Ehrenurkunde überricht an dem Tage, da er vor fünfundzwanzig Jahren im Wahlkreise Großgerau gewählt als Mitglied in unsere Kammer eintrat. In der mit stetigem Aufstieg beglückten Zeit bis 1914, in den ernsten Nöten des Weltkrieges 1914 bis 1918 und den folgenden schweren Wiederaufbaukämpfen unserer Wirtschaft, durch Revolutionszeiten, durch drückende Besatzungsjahre, durch Rhein-Ruhrkampf und Separatismus, durch aufgeregte Inflations- und Dflationszeiten hindurch hat der Jubilar stets gern und pflichtgetreu seine Arbeitskraft und reichen Kenntnisse in den Dienst unserer Kammer gestellt. Ein Kämpfer für die besonderen Belange seines Wahlkreises, hatt er darüber hinaus der Kammer und damit dem Gesamtkreis von Industrie und Handel unserer deutschen Volkswirtschaft durch wertvollen Rat in Vollversammlungen, durch ernste Mitarbeit in den verschiedensten Kommissionen unserer Kammer, hier wieder im Besonderen in allen Fragen des besetzten Gebietes, selbstlos genützt, nicht zu vergessen seiner ständigen Mitarbeit auf den besonderen Gebieten seines Geschäftszweiges in den Zeiten der Zwangswirtschaft, und bei Gestaltung der Reichs-Branntwein-Monopol-Verwaltung, sowie in Zoll- und Steuerfragen.
Nicht zuletzt stand er der Geschäfstführung der Kammer durch treffende Gutachten, Auskünfte, Anregungen und Ratschläge stets helfend zur Seite.
Dessen eingedenk ist es für die Kammer eine Ehrenpflicht, für die unterzeichneten Kollegen des Jubilars und die Syndici [Juristen] der Kammer ein Herzensbedürfnis, am heutigen Tage ihren freudigen Dank zum Ausdruck zu bringen, zugleich auch die Hoffnung, es möge dem Jubilar noch recht lange vergönnt sein, in gleicher Frische wie bislang seine wertvolle Mitarbeit in den Dienst der Kammer stellen zu können.
Darmstadt, den 1. Januar 1928
Hessische Industrie- und Handelskammer