Im Stadtarchiv werden drei jüdische Familien urkundlich am Ende des 17. Jahrhunderts erwähnt. Zwei wurden vertrieben und die dritte, die Viehhandel betrieb sowie mit Stoffen handelte, durfte bleiben. Es ist möglich, daß diese Vertreibung im Zusammenhang der Erlangung der Stadtrechte gesehen werden muß, die im gleichen Jahr vom Landgraf von Hessen-Darmstadt an Groß-Gerau verliehen wurde. Diese Privilegien schlossen die Zusicherung für die Stadt ein, nicht mehr als zwei Schutzjuden-Familien aufnehmen zu müssen. Der Landgraf hatte zweifelsohne finanzielle Interessen an den Juden und sah in ihnen eine willkommene Geldquelle, demgegenüber sahen die Händler in den Juden Konkurrenten.
Zur Zeit der Weimarer Republik gab es einen langsamen Anstieg in der jüdischen Bevölkerungszahl, ihren Höhepunkt erreichte sie um das Jahr 1925. Seit der Machtübernahme der Nationalsozialisten gab es natürlich eine ständige Abnahme der jüdischen Bevölkerung. Nur eine Familie siedelte im Jahre 1934 aus einem der Dörfer (Geinsheim) nach Groß-Gerau um. Den Dokumenten des Stadtarchivs zufolge sieht das Ende der jüdischen Gemeinde bis zum Jahr 1940 wie folgt aus: 25 Menschen wanderten direkt in die USA aus; 5 nach Frankreich und einer (Menachem Kaufmann) nach Israel; 96 gingen in die großen Städte in Deutschland, darunter 63 nach Frankfurt am Main und 33 nach Mainz und Wiesbaden und anderen Städten. Einem Teil von ihnen gelang es, nach Übersee auszuwandern, andere wurden in die Konzentrationslager des Ostens verschleppt; 4 wurden direkt aus Groß-Gerau in die Todeslager geschickt. Vier starben in der Stadt, und über das Schicksal der anderen haben wir keine Informationen. Kein Jude aus Groß-Gerau hat sich das Leben genommen. Der letzte Jude, "Schachtel-Jude" genannt, in Anlehnung an die Kiste, mit der dieser Händler seine Ware von Haus zu Haus trug, wurde 1939 vertrieben. Am 7. November 1940 konnte der Bürgermeister seinen Vorgesetzten mitteilen, daß Groß-Gerau "judenrein" sei.
Die Zahl der jüdischen Schüler, die in der Groß-Gerauer Hessischen
Realschule unterrichtet wurden, die ab 1935/1936 "Oberschule für Jungen,
Klassen 1-5" hieß, spiegelt den Befund aus der Bevölkerungsentwicklung:
Während in den Jahren 1907/1908 bis 1926/27 jeweils zwischen neunzehn und
dreiunddreißig jüdische Schüler und Schülerinnen diese
Realschule besuchten, nahm die Zahl von 1928/29 an rapide ab. Bereits im Schuljahr
1934/35 verließ der letzte jüdische Schüler diese weiterführende
Schule. Damit war der Zustand erreicht, den der nationalsozialistische Reichsminister
für das Erziehungswesen Rust kurz nach den Ausschreitungen gegen die jüdische
Bevölkerung generell im November 1938 verkündete: "Kein
Platz für Juden in Schulen". Der letzte jüdische Lehrer Karl
Hartogsohn verließ Groß-Gerau schon am 1.9.1936.
Die jüdische Bevölkerung in Groß-Gerau 1663 - 1939
Die Prozentangaben beziehen sich auf den Anteil an der Groß-Gerauer Gesamtbevölkerung.
Zum Vergleich:
1933 in Groß - Gerau |
1933 in Deutschland | 1983 in Deutschland | 2015 in Deutschland | |
Gesamtbevölkerung | 6557 | 66 Mio | 66 Mio | 80 Mio |
davon Juden | 140 | 500.000 | 33.000 | ca. 200.000 |
= jüd. Bev. in Prozent | 2,1 | 0,7 | 0,05 | 0,25 |
Dokument
aus der Hessischen Landeszeitung vom 15.11.1938:
Berlin, 14. Nov. Die Rassentrennung im Schulwesen ist zwar in den letzten Jahren im allgemeinen bereits durchgeführt, doch ist ein Restbestand jüdischer Schüler auf den deutschen Schulen übriggeblieben, dem der gemeinsame Schulbesuch mit deutschen Jungen und Mädeln nunmehr nicht weiter gestattet werden kann. Vorbehaltlich weiterer gesetzlicher Regelung hat daher Reichserziehungsminister Rust mit sofortiger Wirkung folgende Anordnung erlassen:
Auch Hochschulen für Juden gesperrt |
Dokument aus der Hessischen Landeszeitung vom 29.6.1939:
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