Antisemitismus im NS in Groß-Gerau

Am 30. März 1933 nachts werden die Schaufenster der jüdischen Kaufhäuser Kahn und Guthmann, die von Schade und Füllgrabe sowie die Balkonfenster des Baustoffhändlers Simon Guckenheimer eingeschlagen. Jüdische Geschäfte werden weiterhin boykottiert. Das ist die Stunde der SA, die entweder in einer Doppelrolle als Hilfspolizei und Parteimiliz oder allein als SA das Feld beherrschte: in Groß-Gerau repräsentiert durch Philipp Gernand (genannt "Blinzeler") und Philipp Engeroff (genannt "Bananen-Philipp").


1. April 1933: Jüdische Geschäfte werden boykottiert, Schaufenster von Juden werden als solche gekennzeichnet. Bewaffnete SA-Posten werden vor den jüdischen Läden aufgestellt, wer öffentlich bei Juden kauft, wird notiert. Am 28. Juni 1933 wird die jüdische Gardinenfabrikantin Paula Mattes in "Schutzhaft" genommen.
Links: Boykott am 1. April 1933 in Berlin. Rechts: Schaufenster des Schuhhauses Joseph in Frankfurt am Main am 1. Mai 1938

Wahlergebnisse in Groß-Gerau:

zum Vergleich Wahlergebnisse im "Deutschen Reich":


Im August 1934, dringen "Unbekannte" in die Synagoge ein, verwüsten die Torabücher und zerstören religiöse Gebrauchsgegenstände. 1935, noch vor der Veröffentlichung der Nürnberger Gesetze am 15. September, mußten jüdische Schulkinder die öffentlichen Schulen verlassen, da es ständig Übergriffe auf sie gab. Sie mußten jetzt in die jüdische Schule nach Mainz überwechseln, in eine Institution, die als Gymnasium neben der liberalen Synagoge eingerichtet worden ist. Trotz ihrer Beteiligung an jüdischen Jugend- und Sportgruppen in Mainz, gab es für sie immer noch ein reges gesellschaftliches Leben in Groß-Gerau.

 

Das Bild links zeigt in der Pogromnacht verbrannte Torarollen aus der Synagoge in Worms.


Direkt nach der Gesetzgebung von Nürnberg begannen einige Naziführer der Stadt mit der Feststellung des "Ariernachweises" derer, deren "arische" Abstammung in Zweifel gezogen wurde. Zu diesem Zweck holten sie aus dem Archiv der protestantischen Kirche die Beschneidungslisten der Juden aus dem 18. Jahrhundert heraus, die aus unbekannten Gründen dort verblieben waren, und übergaben sie dem "Gausippenamt" der NSDAP. Diese Liste verschaffte ihnen die Information über Väter und Großväter der "zweifelhaften" Einwohner aus den Jahren 1735 - 1760. Trotz der einschneidenden Beschränkungen, der Festnahmen und der Beleidigungen auf den Straßen führten die Juden ihr Leben weiter. In den Schaufenstern der "arischen" Läden hingen Plakate, die mit Buchstaben beschrieben wurden, die denen der hebräischen Schrift nachgebildet waren mit folgendem Inhalt: "Kauft nicht bei Juden". Der berüchtigte "Stürmer" wurde auf einer Informationstafel ausgestellt, die eigens hierfür gegenüber der Synagoge eingerichtet wurde.

In der Zeitung vom 24. 8. 1935 war zu lesen:


Heute werden an allen deutschen Geschäften in Groß-Gerau Schilder "Juden unerwünscht!" angebracht. Wir haben schon wiederholt darauf hingewiesen, daß es eine Selbstverständlichkeit ist, daß Geschäfte, die durch die Anbringung des Schildes "Deutsches Geschäft" ausgezeichnet wurden, auf den Besuch von Juden verzichten. Durch die Anbringung der Schilder "Juden unerwünscht!" wird dieser Selbstverständlichkeit auch nach außen hin sichtbar Ausdruck gegeben.

Der Zeitung vom 27. 8. 1935 - also noch vor den Nürnberger Gesetzen - entnehmen wir die Beschlüsse des Gemeinderates in Goddelau mit der Schlagzeile "Gegen Juden und Judenknechte! Zur allgemeinen Nachahmung empfohlen!" Diese "Empfehlung" wurde befolgt. Der Büttelborner Gemeinderat (Protokoll vom 30. 8. 1935) und der Gemeinderat von Erfelden (Kreisblatt vom 27. 9. 1935) erließen ähnliche Aufrufe, um die Juden zu isolieren. Den Erfolg dieser die wirtschaftliche Existenz der Juden vernichtenden Beschlüsse brachte der Bürgermeister von Büttelborn 1938 auf den Nenner: "Juden sind hier fast keine mehr, so daß ein Einfluß auf die Wirtschaft nicht stattfinden kann."

Da Juden und Judenknechte auch heute noch versuchen, das deutsche Volk zu schädigen und das Werk des Führers zu sabotieren wurde in der letzten Sitzung des Gemeinderats von Goddelau folgendes beschlossen:

1. Der Zuzug von Juden nach Goddelau ist verboten.
2. Juden ist der Erwerb von Häusern und Grundstücken in der Gemarkung Goddelau nicht gestattet.
3. Pachtstücke, Gräsereien und Brennholz usw. wird an Juden und Judenknechte nicht mehr verpachtet bzw. abgegeben.
4. Da Juden nicht als Deutsche zu betrachten sind, können dieselben auch nicht in den Genuß des Ortsbürgernutzens kommen. Derselbe wird daher den Juden entzogen.
5. Wer mit Juden Geschäfte macht oder sonstigen Verkehr mit Juden pflegt, ist ein Volksverräter. Er stellt sich außerhalb der Volksgemeinschaft und hat keinen Anspruch auf irgendeine Unterstützung von seiten der Gemeinde.
Steuererlaß, Steuerstundung, Uebertragung von Fuhrleitungen, Ausführung von Arbeiten, Beschäftigung und Lieferung in der Gemeinde, Wohnung in einem Gemeindehause, Wohlfahrtsunterstützung und Unterstützung jeglicher Art können denselben nicht gewährt werden.
6. Das an jüdische Metzger und Händler verkaufte Vieh wird auf der Gemeindewage nicht mehr gewogen.
7. Diese Anordnung gilt auch für diejenigen, die auf Umwegen Handel und Verkehr mit Juden treiben.
8. Dieser Beschluß tritt mit sofortiger Wirkung in Kraft.

Es ist angebracht, daß von berufener Stelle einmal dem jüdischen Geschäftsgebaren Einhalt geboten wird, denn auch hier gibt es immer noch Volksgenossen, die glauben, ohne Juden nicht existenzfähig zu sein und die sogar lebenswichtige Bodenerzeugnisse in dessen Hände wandern lassen. Durch den obigen Beschluss des Gemeinderats wird diese irrige Handlungsweise unterbunden und man wird diejenigen, die sich noch weiterhin als Judenknechte betätigen, als Volksschädlinge zu behandeln wissen. Für jeden Volksgenossen muß die Lösung lauten:

Wer mit dem Juden in Geschäftsverkehr steht, geht auch an ihm zugrunde!

(Kreisblatt Groß-Gerau, 27.8.1935)


Am Abend des Versöhnungstages 1937 stellten die Nazis gegenüber dem Synagogeneingang ein Schafott auf und hängten daran ein "Judenpuppe". Noch im gleichen Jahr plante man, den neuen Friedhof zu schließen, um ihn in ein Fußballstadion umzufunktionieren, aber der Beginn des Krieges am 1. September 1939 verhinderte die Ausführung dieses Plans und der Friedhof blieb bestehen, nachdem in der "Kristallnacht" viele Grabsteine zerstört worden waren. Am 14.04.1938 durften die Juden die öffentlichen Archive nicht mehr benutzen und am 19.09.1938 durften sie keine Bibliotheken mehr betreten. Am 5. Juni 1938 fand die letzte Beerdigung auf dem hiesigen Friedhof statt, von jetzt an mußten sie ihre Toten nach Mainz zur Beerdigung bringen, nachdem ihnen die Bestattung in Groß-Gerau untersagt worden war.